Kapitel 5

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Rezo schaffte es nicht einmal zu lächeln, als er Tonis verdutzten Blick sah. Der Stress des langen Drehs hatte ihm mehr zugesetzt, als er es sich eingestehen wollte, also starrte er stumm in Tonis braune Augen, nicht im Stande etwas zu empfinden. Ihm war bewusst, was er für ein Bild abgab, jetzt, da er sich nicht mehr um ein anderes bemühte. Toni hatte ihn in einem schwachen Moment erwischt, es würde nichts bringen sich nun wieder eine Maske aufzusetzen, selbst wenn er die Kraft dazu hätte. Er sah, wie Tonis Wangen sich leicht färbten und bemerkte, dass der verlegene Mann, abgesehen von seinen Boxershorts nackt war.
"Ich zieh mich kurz an", lächelte er kurz, bevor er sich an Rezo vorbei drückte. Er selbst konnte sich nicht rühren, schaffte nicht diesen gefühllosen Zustand zu überwinden, in dem er gefangen war. Erst als sich Nia in sein Blickfeld schob, bemerkte er, dass sein Blick noch immer starr vor sich gerichtet war. Träge fokussierte er auf die dunklen Augen seines Freundes. Wie konnte eine so einfache Bewegung so an seiner Kraft zehren?
"Hey", meinte Nia leise. Rezo versuchte sich zusammen zu reißen, er war schon zu oft in diesem Zustand gewesen, als dass er nicht hätte lernen müssen, ihn zu verbergen. Er wusste, wie man ein Grinsen fälschte, seine Kopf überlistete. Er tat sein Möglichstes, niemandem die kalte Leere in sich zu zeigen. Aber heute schaffte er es einfach nicht, gegen seine erdrückenden Gedanken anzukommen. Das Reden mit Toni hatte ihm in gewisser Weise geholfen, ihm bestätigt, dass er sich das alles wahrscheinlich doch nicht nur einbildete, aber nun schaffte er es nicht mehr, einfach in die Rolle des alten, glücklichen Rezo zu schlüpfen. Es war, als hätte Toni unwiederruflich eine Mauer eingerissen, die er zwischen sich, seinen Gefühlen und der Außenwelt gebaut hatte.

Erst als Nia ihm über die Wange strich, bemerkte er, dass sich Tränen ihren Weg frei gebahnt hatten. Er war so schwach, heulte wegen nichts. Blamierte sich wieder einmal vor seinen Freunden, wegen nichts, dabei war alles nur in seinem Kopf. Nicht einmal ein Lächeln brachte er zustande, oder mit dem bisschen Leistungsdruck umzugehen, den sein Beruf nun mal erforderte. Dabei hatte er sich dieses Leben herausgesucht, obwohl seine akademische Laufbahn in einen ganz andere Richtung gerichtet gewesen war. Er war so erbärmlich.
"Können wir Musik anmachen?" Es war keine Frage, es war ein Flehen und Nia verstand ihn. Er musste erst gar nicht versuchen zu erklären, dass sie eine Möglichkeit seinen Gedanken zumindest teilweise zu entfliehen, darstellte. Er verspürte das Bedürfnis seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, seine Gedanken aus ihm herauszuprügeln. Er biss sich auf die Lippe, um ein leises Wimmern zu unterdrücken.
Er hatte gute Tage und er hatte schlechte Tage. Heute war ein schlechter Tag, und er hatte sich vollkommen verausgabt. Er schloss die Augen, als Nia ihn in eine Umarmung zog. Obwohl sein Körper von dem heißen Wasser noch vollkommen überhitzt war, war ihm kalt, sodass die Wärme seines Freundes etwas tröstliches hatte. Auch wenn das Gefühl der Geborgenheit nicht ganz zu ihm durchdrang, milderte es den unerträglichen Schmerz in ihm ab. Ein Wimmern verließ seine Lippen, obwohl er es noch zu vermeiden versuchte.
"Hey, schon in Ordnung." Beruhigend strich Nias Hand über seinen Rücken. Rezo zwang sich zu einem tiefen ein und ausatmen, ehe er sich von Nia löste. Betreten wagte er es nicht den Kopf zu heben, ballte stattdessen die Hände zu Fäusten und grub die Fingernägel in die Handballen.
"Tu das nicht." Toni, mittlerweile angezogen, löste behutsam seine Finger aus der Faust und nahm sie stattdessen zwischen seine Hände. Der Anblick ihrer ineinander verschlungenen Finger, löste etwas in ihm aus, zerstörte die gleichgültige Leere in seiner Brust, die Taubheit in seinem Körper und verdrängte die schlimmsten Gedanken. Zurück blieb nur der Schmerz. Vorsichtig hob er den Blick in Tonis besorgte braune Augen.
"Was jetzt?" Er erkannte seine eigene Stimme kaum, die rau, kratzig und viel zu leise war. Toni ließ kurz seine Hand los, fuhr sich gleichzeitig mit Nia durch die Haare, was Rezo ein leichtes Lächeln entlockte. Süß, schoss es ihm unerwartet durch den Kopf.
"Gehen wir ins Wohnzimmer?" Nia lächelte ihm aufmunternd zu, als er langsam nickte. Sein Blick fiel auf seine Hände, die wieder in denen von Toni lagen. 'Lass mich nicht los', flehte er innerlich, obwohl er wusste wie dumm dieser Gedanke war. Wie sollten sie denn so überhaupt gehen? Bitter presste er seine Lippen aufeinander und verdammte seine Gedanken. Behutsam löste Toni eine Hand und Rezo wurde bewusst, dass er schon viel zu lange auf sie gestarrt hatte. Anstatt aber auch seine rechte Hand loszulassen, blieb seine Rechte in Tonis Griff bestehen. Vorsichtig zog der Jüngere ihn mit sich und er ließ sich bereitwillig neben ihn auf das Sofa fallen. Nia setzte sich ebenfalls neben ihn, sodass er in der Mitte seiner Freunde saß. Rezo schloss die Augen, stieß die Luft aus, welche er angehalten hatte und lehnte sich zurück. Er wollte schreien.
"Du kannst mit uns über alles reden, das weißt du oder?", begann Toni zaghaft. Rezo bemerkte den versteckten Vorwurf dahinter und schüttelte den Kopf, ehe er den Blick auf die Decke über sich richtete und er ihn korrigierte.
"Sollte die Frage nicht eher lauten: Warum hast du nichts gesagt?" Toni sah aus, als wolle er ihm widersprechen, aber Nia kam ihm zuvor.
"Die Antwort darauf kennen wir bereits." Nia gab ihm bedingungslose Offenheit, Rezo schluckte und versuchte gegen seine Tränen anzukommen, die bereits wieder in seinen Augen brannten. Natürlich wusste sein Freund, wie schwierig es war sich anderen anzuvertrauen. Weil man sich nie sicher war, ob es überhaupt etwas zum anvertrauen gab.
"Es ist nichts", startete er einen letzten halbherzigen Versuch, sich weiter vor seinen Freunden zu verstellen. Er bot ihnen eine letzte Möglichkeit zum Rückzug, eine letzte Chance, dass er sie nicht belastete. Mehr verkraftete er nicht, wobei, eine Zurückweisung überstand er jetzt vermutlich auch nicht mehr.
"So schnell wirst du uns nicht los", meinte Nia und auf seinem Gesicht zeichnete sich, neben einem feinen Lächeln, feste Entschlossenheit ab. Tonis Finger strichen über seinen Handrücken, sodass sein Blick wieder auf ihre Hände fiel. Die Bewegung stoppte kurz, ehe sie behutsam wieder einsetzte.
"Danke", flüsterte er und richtete sein Blick zunächst auf Tonis schokoladenbraune Augen, bevor er auch Nias Blick begegnete. Eine tiefe, warme Dankbarkeit erfüllte ihn, einfach nur, weil sie ihn nicht aufgaben, nicht abwiesen. Tränen kullerten wieder über seine Wange und er klammerte sich an Tonis Pulli fest, als dieser ihn in eine feste Umarmung zog.
"Danke", flüsterte er noch einmal mit tränenerstickter Stimme und schloss die Augen, als Tonis Hand ihm über den Hinterkopf strich. Seine beruhigende Wärme war lebensrettend in dieser kalten hektischen Welt.
"Danke", sagte er noch einmal, diesmal lauter und zu Nia. Er löste sich langsam aus Tonis Armen, richtete sich wieder auf und atmete tief durch.
"Ich weiß nicht wo ich anfangen soll..." ...oder aufhören. Wie sprach man über nichts und doch alles? Über verzehrenden Schmerz, den man sich nur einbildete? Wie konnte man über ein Gefühl sprechen, das einen aller Gefühle beraubte?

"Was schmerzt am meisten?" Er richtete seinen Blick in Nias dunkelblaue Augen. Er war selbst zu unfähig auf so eine einfache Frage zu antworten, er war so dumm und erbärmlich.
"Ich weiß nicht..." Natürlich nicht, dachte er bitter. Wichtige Dinge wusste er nie.
"Dann vermute einfach." Nia lächelte ihm aufmunternd zu, den Kopf leicht schief gelegt, sodass ihm wieder einmal eine Strähne ins Gesicht fiel.
"Ich..." ...weiß nicht. Du sollst nicht wissen, ermahnte er sich, sondern vermuten.
"Beleidigungen." Er war nun mal ein gottverdammter Weichling.
"Die Hater. Ich weiß, dass sie keine Ahnung haben, aber... " Vielleicht ja doch?
"Weiter", flüsterte Toni in seinem Nacken, nachdem er näher an Rezo herangerückt war.
"Wenn nichts einen Sinn hat, weil ich jedliche Hoffnung verloren habe." Warum Videos machen, wenn sie irgendwann sowieso in Vergessenheit gerieten? Warum lernen, wenn man nie alles lernen konnte? Warum leben, wenn man sowieso starb?
"Gedanken an den Tod", flüstere er, spürte wir Toni hinter ihm kurz erstarrte.
"Wenn ich nicht verstanden werde." Er spürte einen Hauch von Wut in sich.
"Wenn ich nur an mich selbst denke, obwohl ich weiß, dass es mir eigentlich gut geht." Er seufzte genervt auf.
"Wenn ich mich dumm und lächerlich fühle und mein Kopf mir ständig sagt, wie erbärmlich ich doch bin."
"Du bist nicht erbärmlich, du bist großartig!" Tonis Einwand brachte ihn dazu den Kopf zu drehen und den Blickkontakt zu Nia abzubrechen.
"Ich bin vieles, aber ganz bestimmt nicht großartig." Er war dem Jüngeren so nah, dass er den braunen Farbverlauf in dessen entsetzten Augen sehen konnte. Er spürte einen feinen Stich in der Brust.
"Rezo, du bist ein unglaublich guter Musiker, du bist so unfassbar klug und gebildet, dass man sich manchmal nach dem Video hinsetzt und erst mal die Bedeutung einzelner Worte googeln muss! Du schaffst es Parallelen zu ziehen und Zusammenhänge zu erkennen, wo andere im Chaos versinken und bist dabei so verdammt bescheiden, dass man eifersüchtig werden könnte! Und obwohl du mal kurz aus dem stehgreif einen Beat basteln kannst und in kurzer Zeit unglaublich berühmt geworden bist, bist du noch immer so bodenständig und nett, auch zu aufdringlichen Fans. Du bist engagiert und hilfsbereit und zuvorkommend und manchmal ein bisschen zu perfekt und gutaussehend." Toni hielt kurz inne und Rezo bemerkte wieder einen leichten Rotschimmer, der sich auf die Wangen des Jüngeren legte.
"Also erzähl mir nicht, du bist nicht großartig, wahrscheinlich bist du noch beinahe... mehr!"

Rezo starrte ihn an, unfähig zu begreifen. Für eine Sekunde erlaubte er sich in dem warmen Braun zu versinken, seinen Worten Glauben zu schenken.
"Danke", flüsterte er, weil ihm sonst nichts einfiel. Zum ersten mal seit langem zweifelte er an den dunklen Gedanken in seinem Kopf, die immer wie eine kalte Wolke über ihm zu liegen schien. Es fühlte sich gut an, wie ein strahlendes Licht, das sich den Weg frei bahnte und ihn von innen wärmte.
"War gar nicht so schlimm oder?" Nias Stimme schaltete sich sanft in seine Gedanken ein.
"Nein." Er blinzelte kurz, als ihm seine Nähe zu Toni bewusst wurde und er wandte sich mit Mühe Nia zu.
"Dann merk dir das. Und wenn du bereit bist mit uns weiter darüber zu sprechen, dann sag einfach Bescheid." Nia lächelte und Rezo erwiederte sein Lächeln. Woher hatte Nia gewusst, dass er gerade nicht mehr weiter reden wollte, sondern einfach dieses Gefühl in sich genießen wollte? Aus den Augenwinkeln sah er, dass Toni ihn noch immer anstarrte und er warf auch ihm einen lächelnden Blick zu.
"Danke", wiederholte er noch einmal und Toni grinste leicht.
"Das sagtest du bereits." Und ich kann es gar nicht oft genug sagen. Rezo wusste, dass diese wenigen Minuten ihn vom Abgrund weg gezogen hatten. Er war noch lange nicht wieder auf dem Höhepunkt seines Lebens, aber wenigstens war sein Blick in diesem Moment nicht mehr unmittelbar auf die schwarze Tiefe gerichtet.

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