Kapitel eins

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"Ist klar" sagte ich lachend. "Und ich bin ein Werwolf!" "Och, Lilli, jetzt mal im Ernst! Könnte es nicht sein, dass er ein Vampir ist? So... geheimnissvoll... und gruuuuselig!"

Sie zog das 'u' besonders lang, um mir zu demonstrieren, wie seltsam der Typ war. "Aber irgendwie auch süß, oder?" Nora stubste mich an umd ich schmunzelte. "Joa, in Ordnung..." " Mooooment! So zurückhaltend bist du doch nur, wenn... Lilli!!! Du bist mit Josh zusammen?!" Sie zerrte an meinem Ellenbogen, so dass die leise vor sich hinschimpfenden Schüler hinter uns uns ausweichen mussten. "Naja, mmh... Ja!"

"Das wurde ja auch Zeit! So lange, wie ihr umeinander herum getänzelt seid!" Ich versuchte empört "Wir tänzeln nicht" zu sagen, doch ich freute mich ziemlich über Noras offene Beigeisterung, also ließ ich ihre stürmische Umarmung zu. Ja, Josh war toll. Lieb, fürsorglich, er sah nicht übel aus, konnte toll küssen...Der einzige Haken an der Sache war, dass ich ihn nicht liebte. Er war perfekt für mich, ja, aber ich liebte ihn nunmal nicht. Ich hatte auch meinen Ex, Chris, nie geliebt, ich hatte es nur gemocht, bei ihm zu sein. Ich weiß, dass klingt total verwirrend und ich verstehe es selbst nicht, aber irgendwie hat es bei keinem... 'Klick' gemacht? Ach, ich weiß auch nicht.
Während ich über meine seltsamen Probleme nachdachte, liefen Nora und ich weiter den gelb gestrichenen Gang entlang, bis zu unserem Raum, in dem wir jetzt eine Doppelstunde lang Mr. Taylors Geschichtsunterricht absitzen mussten.

Als Josh, der wohl vor der Tür auf uns gewartet haben musste, auf mich zu kam und mich ohne Scham auf den Mund küsste und fragte: "Hi, Süße, wie geht's?" wurde mir schlagartig bewusst, was ich ihm da antat. Mein Gott, der Typ liebte mich! Und ich tat so als ob, obwohl ich in Wirklichkeit gar nichts für ihm empfand. Verdammt, dachte ich, ich muss das beenden, und zwar schleunigst!

"Ich bin zu Hause, Dad!" rief ich fröhlich in Richtung Küche, sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch und verschwand in meinem Zimmer. Es war ein kleiner, heller Raum, vollgestopft mit Büchern und einem großen Himmelbett an der einen Seite. Das große Fenster, von dem aus man einen schönen Blick auf die Hudsonstreet mit all ihren kleinen Gärten hatte, nahm einen Großteil einer Wand ein. Ich lebte gern in London. Man fühlte sich irgendwie nie allein und trotzdem fand ich immer einen ruhigen Ort, wenn ich ihn brauchte. Und genau so einen musste ich jetzt ausfindig machen, Josh dorthin bestellen und ihm sagen, dass ich eigentlich nichts von ihm wollte. Erst jetzt, im Nachhinein fiel mir auf, dass ich bei seinem Begüßungskuss heute morgen nichts empfunden hatte.

"Toll, super, Lilli, wie ich dein Talent liebe, immer alles schlimmer zu machen, als es sowieso schon ist", dachte ich. Ich sah auf die Uhr. Halb vier. Okay, ich sollte mich schon mal langsam auf die Socken machen, wenn ich pünktlich zum Hockeytraining kommen wollte. "Danach kannst du Josh immernoch herbestellen" dachte ich weiter, mich selbst beruhigend. Als ich in den Flur trat, stand mein Vater im Türrahmen, ein Küchentuch in der Hand und gab Michel, unserem schwarzen Kater, seine tägliche Ration (meiner Meinung nach viel zu ungesundes) Trockenfutter.

"Schon wieder weg?" fragte Dad, als er sich zu mir umdrehte. Seine blonden Haare standen ab und in seinem Drei-Tage-Bart hingen Teigreste. Er sah jung aus, für seine fast 53 Jahre. Ich schnupperte. "Kekse?" fragte ich nur. "Ich hab's probiert" sagte er nüchtern und schmunzelte. Dad war kein großer Koch, er kochte "so gut es ging", wie er zu sagen pflegte, was häufig mit einem Besuch bei einem Schnellrestautant endete. Bei Nora und all den anderen Mädchen, die ich kannte, kochten die Mütter. Ich hatte eben keine mehr. Louiana, ich nannte sie nie 'Mum', wenn ich über sie sprach, das war mir viel zu intim, war kurz nachdem ich zwei geworden war gestorben. Dad sagt, er habe sie nie geliebt, sie war eigentlich nur eine "Affäre, die hängen geblieben ist", doch das glaubte ich ihm nicht. Ich sah die Zärtlichkeit und den Schmerz in seinem Blick, wenn er über sie sprach. Ich band meine langen ebenso blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und sagte: " Ich probier' nachher!", gab ihm einen Kuss, schnappte mir meine Tasche und verließ das Haus, nichts ahnend, welche wahren Geheimnisse und Ängste es barg.

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