Kapitel vier

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Als erstes fiel mir auf, dass seine Schritte unfairer Weise überhaupt nicht hallten. Wie als hätte er schon immer zu ihm gehört, löste er sich aus dem Schatten. Ich konnte große, kräftige Konturen erkennen, dann blickte ich weg. "Lauf!" schrie etwas in mir, doch mein Körper gehorchte mir nicht. Ich erschauderte. "Es ist bestimmt nur ein fremder Gläubiger, der abends nach der Arbeit noch schnell beten will" sagte ich mir, doch ich wusste nur zu gut, dass es nicht so war.

"Ich wusste, dass du kommst." "Ich wusste nicht, dass du das wusstest."

Du. Ich sagte 'du'.

Er lachte leise. "Ach ja?" Jetzt drehte ich mich um. Das war einer dieser wenigen Momente, in denen man merkt, dass sie später von Bedeutung sein werden.

Er war schön. Unbeschreiblich schön. Mein Herz klopfte so laut, dass ich dachte, es wäre in der ganzen Kirche zu hören. Er war einen halben Kopf größer als ich, breit gebaut und durch sein nasses, enges, graues Shirt konnte ich Muskeln erkennen. Viele Muskeln. Sein braunes Haar fiel im in die Stirn und wie Tränen tropften Wassertröpfchen aus seinem Haar. Sein Gesicht war so eben und schön, wie das eines Engels. Seine gerade Nase, seine vollen Lippen. Doch es waren seine Augen, in denen ich mich verlor. Nicht bereit, mich wiederzufinden. Sie waren grün. Ein wunderschönes, kräftiges Herbstgrün. Sie waren lebendig und aufmerksam und hatten irgendwie etwas Gefährliches. Was ihn nur noch schöner machte. Seine Jeans war ein wenig schmutzig und zerschlissen, die weißen Chucks ebenfalls nass vom Regen. Er tat als bemerke er gar nicht, wie ich ihn anstarrte. Er strich mit dem Zeigefinger über eine der Bänke und kam näher. "Lilli", er sagte meinen Namen wie einen Ausdruck von Verlangen und Schmerz, von Glück und Enttäuschung. Jetzt blickte er mir in die Augen. Ich musste ein Seufzen, Keuchen oder was auch immer unterdrücken, als sein Blick mich traf. Seine Augen verhedderten sich in meinen, in diesem Moment wünschte ich mir, nie wieder etwas anderes zu tun, als ihn anzusehen. "Setzen wir uns doch. Hier ist genug Platz." Seine Stimme war angenehm dunkel und klar. Ohne Antwort ließ ich mich auf der nächst besten Bank nieder und er setzte sich dicht neben mich, was mein verrückt spielendes Herz nich gerade beruhigte. Er roch nach Wald und Salz, ein wilder Geruch von Freiheit. "Wer bist du?" meine Stimme war ein Krächzen und ich blickte unverwandt auf meine Hände, die ruhig in meinem Schoß lagen. "Ich denke, das weißt du, Süße." Ich bekam eine Gänsehaut.

'Süße'. Ich wollte mehr von ihm. Ich brauchte mehr von ihm. "Dein Name" wisperte ich.

"Alec" erwiderte er. "Warum tust du ihm das an?" meine Stimme gewann an Sicherheit. "Das hat er dir nicht gesagt?" Alec lachte grimmig. "Ja, das sieht ihm ähnlich." "Du kemnnst ihn? Also persönlich?" "Oh ja, das tue ich". Er sah mich an und sagte sanft: "Du weißt gar nichts, oder?" Ich biss mir auf die Lippe und schüttelte den Kopf. "Nichts" fiepte ich und fühlte mich schrecklich. Ich wusste ja wirklich gar nichts. "Weißt du, Lil, es ist so, dass dein Dad etwas sehr... Böses getan hat. Und ich will, dass er dafür bezahlt. Er sah fast gruselig aus. Das war er ja auch, verdammt nochmal, er war der Erpresser meines Vaters! "Wir sind uns ähnlicher als du denkst. Und du siehst so aus wie sie." "Wie wer? Wie Mum? Woher kennst du sie?" "Lange Geschichte. Ich schwöre dir, dass ich sie dir, im Gegensatz zu deinem Dad, irgendwann erzählen werde." Plötzlich kochte Wut in mir hoch. Diese bescheuerte Geschichte ging mich ja anscheinend sehr viel an, warum verdammt nochmal erzählte sie mir dann keiner?!

Es war jetzt vollends dunkel in der Kirche. Ich blickte in Alecs grüne Augen und mir wurde plötzlich klar, dass ich ihn noch eine Sache so dringend fragen musste: "Warum nur mit mir?" Er sah mich lange an. Mein Herz klopfte und zum tausensten Mal dachte ich, wie wunderschön er war. Während der Erpresser meines Vaters und ich auf einer kalten Holzbank in einer verlassenen Kirche saßen und uns ansahen, wurde mir bewusst, dass ich soeben gelernt hatte, wie es sich anfühlte jemandem zu begegnen, für den man wirklich etwas empfindet. Den man vielleicht sogar liebt.

Plötzlich sah er weg und zerstörte diesen magischen Moment. "Alec", ich wusste nicht woher ich diesen gottverdammten Mut hatte -sorry, ich weiß ich bin in einer Kirche- und legte meine Hand an sein Kinn, sodass er mich ansehen musste. "Alec, warum nur ich?" "Weil du mich faszinierst." Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und fuhr meine Wange nach. Ich sah ihn nicht an. Ich wollte ihn nur spüren, die prickelnde Spur, die sein Finger auf meiner Haut hinterließ, nie wieder vergessen.

Plötzlich hörten wir Schritte. Ich zuckte zusammen und sah automatisch panisch zu Alec. Ich sah wie seine Muskeln, oh Gott, er war wirklich heiß, sich anspannten. "Tu so als würdest du 'ne Kerze anzünden...", zischte er. "Aber, ich hab' doch..." "Mach jetzt, Lilli, vertrau' mir!" Ich zitterte. Ich kannte ihn doch kaum. Wer war er? Was wollte er von mir? Aber ich bin nun mal ich. Das war der einzige Grund, aus dem ich jetzt zu den unruhig flackernden Kerzen ging und mir eine aus der Kiste nahm. Eine Streichholzschachtel lag neben der Kiste. Ich hattewegen Dads Kerzenangst nie, wirklich nie, ein Streichholz angezündet. Ein wenig hilflos sah ich die Schachtel an und drehte die Kerze in den Händen. Plötzlich hörte ich meinen Namen. "Lilli? Lilli! Bist du hier?" Ich erstarrte. Das war Dad. Wenn er mich hier mit Alec sehen würde, wenn er ihn überhaupt sehen würde. Auch wenn er sagte, er würde ihn nicht kennen, ich kannte meinen Dad und wusste wann er log. Ich hatte panische Angst, mehr davor, er könnte Alec schlagen, ihm weh tun, als davor, dass ich in Schwierigkeite kommen könnte. Ich kannte Alec wirklich nicht. Aber mir war klar, dass er Dad nie erpressen würde, wenn er keinen guten Grund hätte. Mein eigener Vater, dem ich jetzt nicht mehr vertrauen konnte, ein fremder, wunderschöner Typ, dem ich nach ein paar wenigen Minuten mehr vertraute. Ich erschauderte wieder. Was war denn hier los? Welches verdammte Spiel wurde hier gespielt? Und welche Rolle spielte ich darin?

Plötzlich spürte ich, wie ich nach hinten gerissen wurde. Ich spürte keinen Boden mehr unter den Füßen, doch eine große, warme Hand legte sich sanft über meine Lippen. Dann spürte ich den glatten Boden unter und eine warme, sich leicht auf- und abbewegende Brust neben mir. Alec plötzlich so nach zu sein, verwirrte mich. Seine Hände lagen ruhig an meiner Taille und ich spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Jetzt waren die Schritte laut, hallten wie meine auf dem Boden. Die hölzerne Kirchenbank, hinter der wir lagen, schütze uns vor seinen - vor Dads - Blicken. Die hohe, bunt bemalte Decke kam mir auf einmal bedrohlich und unwirklich zugleich vor. Alecs Wärme gab mir ein beschützendes Gefühl und ich wollte hier mit ihm liegen bleiben, dem Regen und Dads Schritten lauschend. "Lilli, hör zu, es tut mir leid. Du brauchst keine Angst vor diesem Mann zu haben, es wird alles gut!" Ich zuckte und Alec schloss seine Hände fester um mich. Die Stimme meines Vaters war so vertraut, dass es mir das Herz zeriss. Ich wollte aufspringen, zu ihm rennen, ihn umarmen. Alec für immer vergessen. Doch noch viel mehr wollte ich bei Alec bleiben, seine warmen Hände an meiner Taille spüren und den Alec, der der Erpresser meines Vaters war, hinter mir lassen und nur mit dem weitergehen, dessen Berührungen mir eine Gänsehaut bereiten.

"Geh, wenn du willst" wisperte Alec in mein Ohr und seine Haare kitzelten meine Wange. Wie er sich von hinten über mich beugte und sein sanfter Atem meine Wange streifte, fühlte sich so richtig an, dass ich automatisch den Kopf schüttelte. Ich war mir sicher, dass er lächelte. Da wurde mir bewusst, dass ich gerade einen Fremden, der dazu der Erpressers meines Vaters war, über eben diesen gestellt hatte. Dad war immer für mich da gewesen. Er hatte mir Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, mich getröstet, wenn ich einen Albtraum gehabt hatte. Und jetzt, wo ich ihm doch so viel geschuldet hätte, gab ich ihn auf. "Wenn du das tust, gibt es kein zurück mehr, Lilli" dachte ich. Ich fühlte mich so hilflos und verräterisch, dass ich zu weinen begann. Leise und immer weiter rannen mir Tränen über die Wangen und erst als die Kirchentür zufiel, begriff ich, dass es zu spät war. Und dann begann ich zu schluchzen.

Ich fand mich in starken Armen wieder. Ich wollte mich wehren, weglaufen, doch er hielt mich fest und so gab ich mich seiner tröstenden Wärme hin. Als ich mich endlich leer und müde fühlte, meine Wangen gerötet und meine Augen geschwollen waren, sah ich in Alecs klare Augen, die mitleidig auf mich herabsahen. "Dein T-Shirt ist nass" sagte ich tonlos und strich über den Fleck an seiner Brust, als ob ich ihn so trocknen könnte. Er richtete sich auf und zog mich mit, sodass wir mit dem Rücken an der Bank saßen. "Es tut mir leid, ehrlich. Ich will nicht, dass du wegen mir weinst." Er sah betreten auf die kalten Fliesen. "Schon gut", sagte ich einfach, ohne zu bemerken, dass ich ihm gerade verziehen hatte, dass er das Leben meines Vaters zerstörte.

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