Kapitel fünf

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Es nieselte wieder. Die leichten Tröpfchen beschrieben meine Stimmung so verdammt gut, dass ich, als ich schon längst an unserem Haus angekommen war, trotzdem noch stehen blieb und mein Gesicht dem dunklen, sternenlosen Himmel entgegen streckte. "Bis bald" hatte er gewispert, meine Hand genommen und mich mit diesen Augen angeguckt. Ich fröstelte und sah mich um. Die Straße war leer. Bis auf das Licht aus unserem Wohnzimmer und das der Straßenlaternen lag die Straße im Dunkeln. Dad war also noch wach. Es wäre mir lieber gewesen, ihm heute abend nicht mehr begegnen zu müssen, sich nicht mehr schuldig fühlen zu müssen. Nicht mehr lügen zu müssen. Doch das würden wohl Wünsche bleiben.
"Lilli, Gott sei Dank, wo warst du denn?" Dad fiel mir um den Hals und die Vertrautheit, die er ausstrahlte, machte mich für einen kurzen Moment sprachlos. "Hey, Dad, ich musste nur frische Luft schnappen." Ich hielt seine Nähe nicht aus. Sanft schob ich ihn von mir. "Hör zu" sagte er ernst, blickte im Flur umher, von der gelben Wand zu den hellen Türen, dann traf sein Blick wieder meinen. "Wir schaffen das schon" flüsterte er. "Wer immer der Kerl auch ist, er wird dir nichts tun. Er kennt mich, er weiß mehr, als er wissen sollte." Seine Stimme zitterte, er sah mich so durchdringend an, dass sich eine prickelnde Gänsehaut über meinen ganzen Körper ausbreitete. "Ich würde ihn nicht erkennen, wenn ich ihn sehen würde, aber ja, ich weiß wer er ist." Ich spürte, dass Dad die Wahrheit sagte. Er kannte Alec also wirklich. "Gute Nacht" murmelte ich und senkte den Blick. Als ich in großen Schritten unsere Holztreppe hinauf sprang, spürte ich die verzweifelten Blicke eines Mannes im Rücken, dessen Tochter nur noch an seinen Erpresser denkt.
Immer wieder hörte ich Alecs Stimme: "Lilli, vertrau mir" und ich klammerte mich die ganze Nacht an diese Worte, mir einredend, Alec würde Dad nie etwas antun, ich könnte beiden vertrauen. Aber im Unterbewusstsein, wusste, dass ich mir etwas vorlog. Niemals könnte ich bei beiden sicher sein. Ich musste mich entscheiden. Für Dad und gegen einen Menschen, an den ich die ganze Zeit denken musste, der mein Herz schneller schlagen ließ, dessen Namen ich unaufhörlich vor mich hin wisperte. Oder für eben diesen und gegen meinen eigenen Vater.

Ich musste wohl in den frühen Morgenstunden doch eingeschlafen sein, denn als ich am nächsten Tag aufwachte, fühlte ich mich gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Ich strampelte die wärmende Decke von mir. Als meine warmen Füße das kalte Parkett berührten, waren die Bilder von gestern sofort wieder da. Die kalten Fliesen der Kirche. Seine Schritte, sein Atem, sein Duft, seine Wärme. Er.
Eine Weile stand ich vor meinem weißen Kleiderschrank und starrte vor mich hin. Dann schlüpte ich in eine Jeans und einen schwarzen Pullover. Bloß nichts Auffälliges. Mit dem ersten Schritt auf der Treppe roch ich schon das Rührei, dass in der Pfanne vor sich hin dampfte. "Morgen, Dad!" sagte ich, versucht mir nichts von meiner Aufregung, schon wieder meinen Vater anlügen zu müssen, anmerken zu lassen. "Na, hast du Hunger?" Seine Augen funkelten fröhlich und ich bewunderte ihn dafür, dass ihm das mit dem 'Nichts-Anmerken-Lassen' so gut gelang. "Naja, geht", murmelte ich und ließ mich auf einen der rot gepolsterten Stühle nieder. "Steht heute 'was Besonderes an? Arbeit oder so was?" "Nur ein Englischvokabeltest" "Kein Problem für Dich, mh?" "Ist nicht so schwer" Wie ich diesen Smalltalk hasste. "Und Nora? Wie läuft es bei ihr so?" Am liebsten hätte ich gebrüllt: "VERDAMMT, DAD, MACHEN WIR UNS DOCH NICHTS VOR!" Aber ich tat es nicht. Aus Angst. Aus schlechtem Gewissen. Warum auch immer. "Ganz gut... Oh, ich muss mich beeilen. Der Bus kommt in fünf Minuten! Tschüss!" Wie konnten wir nur so normal reden? Wie konnte alles so normal sein?
"Hey, Lilli." Ich erschrak. Ich hatte mal wieder an ihn gedacht. Wie die ganze Zeit. Diese Stimme riss mich völlig unerwartet aus meinen Gedanken. "Hi, hab ich mich erschre...", fing ich an, doch Joshs Anblick ließ mich verstummen. Da lächelte er wieder dieses verdammt süße Josh-Lächeln, was die Tatsache, ihm so unerwartet zu begegnen, auch nicht besser machte. Generell ist es keine so gute Idee, dem Jungen, dem man womöglich vor wenigen Stunden das Herz gebrochen hatte, unvorbereitet in die Arme zu laufen. Geschweige denn, sein Lächeln süß zu finden. Aber wozu hat man beste Freundinnen? In dem Moment, in dem es anfing unangenehm zu werden (wobei es das doch eigentlich die ganze Zeit war), hörte ich Noras fröhliche Stimme hinter mir. "Naaa, ihr zwei, wieder glücklich vereint...?" Okay, vielleicht waren in solchen Momenten doch Löcher zum Versinken das Hilfreichste. Beste Freundinnen machten es womöglich nur noch schlimmer...
Ich sah zu Josh, der mich mit hochgezogenen Brauen ansah. Ich kannte ihn gut genug um zu wissen, dass das sein 'Na-Lilli-wie-kommst-du-da-jetzt-wieder-raus'-Blick war. "Wir..." begann ich und sah auf das Kopfsteinpflaster. Wir waren nur wenige Meter von der Treppe zum Haupteingang unserer Schule entfernt und langsam füllte sich der Hof mit schwatzenden Schülern. "...sind nicht mehr zusammen." beendete Josh meinen Satz. "Ohh, das tut mir jetzt echt leid... Darf ich fragen warum?" Noras braune Hundeaugen sahen von mir zu Josh. Jetzt kam der 'Guck-mich-nicht-so-an-du-machst-das'-Blick. Na super. Wie kann ein Tag besser beginnen? Ich zog die Schultern hoch und versuchte mich, so gut es ging, in meiner beigen Winterjacke zu verstecken. "Ich brauch nur Zeit..." murmelte ich. Zeit für Dad. Zeit um zu verstehen, warum ich nur noch an Alec denke. Zeit.

"Es ist eine Frage der Sichtweise!", erzählte Mrs Adams, "Die einen denken so, die andern so." Aha. Wie schön. Ich sah aus dem Fenster. Draußen war es neblig; man konnte die erste Häuserreihe der Holmesstreet nur erahnen. Das Gebäude der Schule war schön, alt und ich hatte mich in ihm immer geborgen gefühlt. Aber heute fühlte es sich falsch an hier zu sitzen, statt bei Dad zu sein, ihm beizustehen. Oder bei Alec. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch sofort wieder, zumal Mrs Adams meinen Namen sagte: "Lillian? Kannst du wiederholen, was ich eben gesagt habe und meine Frage beantworten?" Ich schluckte. Nein, konnte ich natürlich nicht. Nora kritzelte unauffällig ein paar Zeichen in mein Heft. Etwas das aussah wie eine Banane, eine Kugel und zwei Strichmännchen. "Auch die Kugel-Bananen sind... bei Menschen beliebt?" wisperte ich Nora zu. "Lillian!" Mrs Adams Stimme wurde streng. "Würdest du bitte meine Frage beantworten?" Nora neben mir seuftze und machte ein großes Kreuz über ihre undeutbaren Kritzeleien. Also keine Hilfe mehr von ihr. Mein Blick schweifte zur unbeschriebenen Tafel, zur Landkarte, die daneben hing. Ich musterte die weiße Tapete und die sauberen Holztische. Dann sah ich wieder zu Mrs Adams. "Tut mir leid, ich... hab keine Ahnung..." stotterte ich. "Wie schade! Daran solltest du bis spätestens zur Prüfung arbeiten. Nimm dir ein wenig Zeit und wiederhole besser nochmal alles... Wir wollen ja nicht, dass du uns verloren gehst!" erwiderte sie, lächelte triumphierend und drehte sich zur Tafel um.
Zeit... Ja, da muss ich Mrs Adams recht geben, ich bräuchte mehr davon.

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