Unforgivable. Das Wort spukte wie zu dichter Nebel durch meinen Kopf. Es wehte weg, kam wieder, rauschte durch mich durch wie durch einen endlos langen, dunklen Tunnel, mit einem ewig gleichbleibenden Licht. Ein Licht, das wir nie erreichen werden und es doch nie aus den Augen verlieren. Ein Licht, von dem wir denken, es zu kennen, um immer und immer wieder enttäuscht zu werden. Wie ein Sturm jagte das Wort durch meinen Körper, erfüllte jede Faser mit eiskalter Angst. Kerzen. Licht. Tunnel. Flamme. Angst. Angst. Wenn Angst jeden Winkel erfasst, durch uns hindurch spukt, wie klares, undurchdringbares Eis, dann erfahren wir so viel mehr über uns. über unsere Gehemnisse, die überall lauern.
Ich keuchte auf. "Nur mit mir?" brachte ich heraus. "Es tut mir so leid!" Eine einzelne verlorene Träne bahnte sich den Weg Dads Wange hinunter. Erst als ich ihren Weg bis auf die blank polierte Tischplatte verfolgte, wurde mir bewusst, dass ich ihn noch nie hatte weinen sehen. Ich streckte die Hand aus und fuhr die Spur nach, die seine Träne hinterlassen hatte. "Ist schon gut, Dad, es wird schon alles wieder gut." Es kam mir so absurd vor, dass ich meinen weinenden Vater beruhigen musste, wo es doch all die Jahre anders herum gewesen war. "Lilli, ich liebe dich, egal, was passiert." Es machte mir Angst, dass er so etwas sagte. Trotzdem erwiderte ich tapfer: "Ich dich auch, Dad!" Es entstand eine Stille, in der sogar der Regen nicht zu hören war. Eine Stille, die nur für Dad und mich bestimmt war. Eine Stille, die uns verschluckte, in der Hoffnung, uns nie wieder freigeben zu müssen.
"Und... Wann?" Es tat weh, diese endlose Stille unterbrechen zu müssen. Aber diese Frage brannte in mir. "Samstag abend. In der St. Brides Church." "In vier Tagen schon?" Er nickte nur. " Okay" sagte ich zuversichtlicher, als ich mich fühlte. "Und was soll ich... ihm geben?" "Keine Ahnung" "Ich soll nur kommen?" "Ja." Wieder Stille. "Dad?" "Mhh?" "Was..." Ich schluckte, "Was ist, wenn er mich... umbringt?" Obwohl es der erste Gedanke war, der mir hätte kommen müssen, dachte ich erst jetzt: " Wer ist 'er'?" "Er. Wird. Dich. Nicht. Töten." Seine Stimme versagte; wieder hatte er Tränen in den Augen. "Okay" piepste ich. Wieder: "Ach, Dad?" "Mhh?" "Wer ist er?" sein Blick hob sich ruckartig. "Also, kennst du ihn?" fragte ich weiter. "Nein, nein, natürlich nicht..." Er war verwirrt, verunsichert. Und in dem Moment, als er aufstand und eilig die Küche verließ, wusste ich, dass mein Dad mich eben zu ersten Mal seit Jahren, seit ich nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte, angelogen hatte. Und plötzlich stand er wieder in der Tür. "Und, Lilli, du darfst es niemandem, und wenn ich das sage, meine ich das so, niemandem sagen!" "Klar" "Schwöre es" "Was?" "Verdammt, Lilli, du solltst es schwören!" Sein Schrei erschreckte und verunsicherte mich zugleich. Warum brüllte er so? "Ich schwör's" sagte ich trotzig, stand auf und quetschte mich an ihm vorbei durch die Tür. "Dad" fauchte ich noch, dann war meine Jacke vom Hacken und ich aus der Tür.
Es hatte aufgehört zu regnen doch der Boden war noch nass und aus der Luft war jeder kleinste Teil des Sommers verschwunden. Erst dachte ich daran, Nora anzurufen, doch ich verwarf den Gedanken. Ich wusste, dass sie sich nicht damit abfinden würde, dass ich ihr nichts sagen durfte. Ich liebte Nora, ja, und sie war eine geniale Freundin, aber eben nicht perfekt. Aber wer ist das schon. Ich musste wohl oder übel mit mir selbst vorlieb nehmen.
Wie in Trance wankte ich die Hudson entlang. Weg, weg von dem Haus, in dem ich gerade etwas so Unfassbares erlebt hatte. Meine Probleme, Josh, es kam mir so falsch, so unverständlich vor, dass ich mir über so etwas Gedanken machte. Über etwas, von dem eben kein Leben abhing. Von dem nicht MEIN Leben abhing.
Unforgivable.
Da fiel mir wieder ein, was mich Samstag erwartete. 'Fiel mir ein', als ob ich es hätte vergessen können. Ich fragte mich, wie alt er wohl war. War er so alt wie Dad? Jünger? Älter? Wie sah er aus, groß, klein, breitschultrig oder schmal? Mann, ich wusste gar nichts über diesen Kerl. Nur, dass er soeben einen großen Riss durch mein normal perfektes Leben gezaubert hatte.
Ohne es zu merken, war ich in Richtung Brides Church gelaufen. Ich kannte sie von früher, Dad und ich waren auf dem Weg zum Bäcker oft daran vorbei geschlendert. Doch heute kam sie mir gar nicht mehr freundlich und einladend vor. Wie ein Fels ragte sie vor mir auf, wie als wollte sie mir beweisen, dass sie bald so viel Unverstandenes bergen würde. Ich drückte die schwere Holztür auf. Mit einem leisen Quietschen gewärte sie mir Eintritt in das alte Gebäude. An den hohen Decken hallten meine Schritte wieder, obwohl ich Chucks trug. Der Gang zum Altar kam mir endlos vor; all die leeren Bänke sahen befremdlich aus. Draußen dämmerte es und in der Kirche brannten ein paar wenige Kerzen, wehalb es langsam dunkel in ihr wurde. Als ich das niedrige Podest erreicht hatte, drehte ich mich um. Die Orgelpfeifen glänzten im schummrigen Licht, dass durch die Buntglasfenster fiel. Stumm starrten mich die leeren Holzbänke an, bis sich ihre hintersten Reihe im Dunkel verloren. Es wurde immer dunkler und die Gebetskerzen flackerten unruhig. Es war still. Diese Art Stille, die man immer in Kirchen hört, die einem jedes Wort aus dem Mund saugt, die es verbietet es zu sagen. Ich fröstelte. Ich hatte nie viel mit Kirchen zu tun gehabt, Dad glaubte nicht und ich hatte ihn nie gedrängt, mit mir in die Kirche zu gehen. Doch jetzt war es gut, hier zu sein. Ich fühlte mich geborgen. Es hatte wieder angefangen zu regnen und ich hörte das gleichmäßige Platschen auf dem Kirchendach. Ich schloss die Augen, gab mich voll und ganz dieser Himmelsmusik hin und lies meine Gedanken laufen.
So stand ich da, eingewickelt in meine Jacke, die Füße in den nassen Chucks dicht zusammengepresst, die Augen geschlossen, auf den Rhythmus meines Herzens lauschend. Ich war verletzlich. Zu verletzlich, um mich vor dem zu schützen, was die eintretende Person mit sich brachte.
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Unforgivable
RomanceLilli lebt zusammen mit ihrem Vater ein ganz normales Leben in London. Normal bis zu dem Tag an dem sie erfährt, dass ihr Vater erpresst wird. Von jemandem, der nur mit ihr reden will. Dieser jemand ist Alec. Der leider verdammt schöne Alec.