Draußen empfing mich ein eisiger Wind. Es war ungewöhnlich kalt für Anfang Oktober. Während ich mein Fahrrad aus der Garage holte, dachte ich noch, dass ich eine dickere Jacke hätte anziehen sollen, doch da riss mich das laute Piepsen meines Handys aus meinen Gedanken. 'Nachricht von Soraya' zeigt es mir an. Ich tippte auf 'öffnen' und legte das Teil auf ein niedriges Tischchen in der Ecke der Garage, da ich nur zu gut wusste, wie ewig es zu laden brauchte. Als das Schrottding die Nachricht endlich geladen hatte, sah ich was, Soraya, meine Hockeytrainerin, geschrieben hatte:
Hey Mädels, heute kein Training, liege krank zu Hause im Bett, Montag wieder. LG Soraya
Toll. Ich ließ das Handy sinken und geriet ein wenig in Panik. Ich hatte gehofft, mich beim Training von Josh ablenken zu können. "Dann hast du's hinter dir", dachte ich und tippte, bevor ich es mir anders überlegte, eine Nachricht an Josh. 'In 5 Minuten an Maggi's Café'.
Ich schob mein Fahrrad langsam aus der Garage. Setzte mich darauf, fuhr los. Warum konnte ich ihn verdammt nochmal nicht einfach lieben? Warum? Konnte es nicht wenigstens einmal klappen. Ein, oder wenigstens ein halbes glückliches Jahr? Ohne ihm das Herz brechen zu müssen. Ich hasste mich dafür, ihn nicht so zu wollen wie er mich. Ihn auf irgendeine Weise gar nicht zu wollen.
Als ich abstieg und mein Fahrrad an deine Laterne schloss, waren meine Finger klamm und eiskalt. Ich rieb sie aneinander und sah mich um. Um diese Zeit war 'Maggi's Café' bis auf den letzten Platz bestetzt. Fast hätte ich den mittelgroßen, schwarzhaarigen Jungen übersehen. Josh lehnte an einem Baum und sah mich unverwand an. Als wüsste er, welch abscheuliches Geständnis ihm gleich machen würde, als wollte er sagen "Wieso, Lilli?" Die Vorstellung bereitete mir eine Gänsehaut.
"Hey" sagte ich und achtete sorgfältig darauf, dass genug Abstand zwischen uns war, sodass er mich nicht küssen konnte. Warum sollte ich ihm denn noch mehr Hoffnungen machen. "Hi" entgegenete er und seine braunen Augen liebkosten meine Lippen, meine Stupsnase und verhakten sich in meinem Blick. "Was gibt's?", fragte er lässig. "Lass uns ein Stück gehen..."Oh Gott, ich zitterte jetzt schon. Zum tausendsten Mal wünschte ich mir, ich wäre besser darin, Leuten, die ich wirklich gern hatte, etwas zu sagen, dass sie enttäuschte. Wir liefen Richtung Pattersonstreet und ich begann: "Weißt du, Josh, gestern..." Mir entging das leise Funkeln in seinen Augen nicht. "Da habe ich glaube ich etwas getan, was unfair war. Ich habe dich denken lassen, dass ich dich liebe. Dass dachte ich auch, ehrlich, aber mir ist klar geworden, dass es nicht so ist; frag' mich nicht warum, ich hab' nicht die leiseste Ahnung. Ich würde dich so gerne lieben, aber...Ich glaube ich bin noch nicht so weit..." meine Stimme versagte. Er schwieg, was das Ganze nur schwerer machte. "Okay" sagte er schließlich. Er klang nüchern, aber ich sah die Entäuschung, die seine klaren Augen verdunkelte wie eine Gewitterwolke. Und ich hasste diese Wolke. Ich hasste sie vor allem deshalb, weil es meine Schuld war, dass sie seinen Blick verdüsterte.
Es hatte, wie um meine Laune widerzuspiegeln, begonnen zu regnen. Die kleinen Wassertröpfchen vermischten sich mit meinen Tränen. Ich hasste es so sehr, ihm weh getan zu haben. Andererseits war ich unglaublich erleichtert, dass ich es getan hatte. Es war besser so. Doch als ich schließlich unsere Haustür aufschloss und meinen Dad in einem abgedunkelten Raum, von einer einzigen Kerze beleuchtet, sah, überkam mich die Ahnung, dass ich mir die Tränen hätte aufheben sollen. Und das meine Probleme im Vergleich zu seinen lächerlich waren.
Dad hasste Kerzen. Über alles. Als Kind hatte er sich einmal an einer verbrannt, seit dem, so sagt er, verabscheut er diese "glühenden Monster". Das einzige Mal, dass eine Kerze in unserem Haus gebrannt hat war, als ich sechs war und meine Oma gestorben war. "Warum hat er eine Kerze angezündet? Was ist passiert?" dachte ich panisch und stürmte den Flur entlang. Durch den Luftzug, den ich herein brachte, erlosch die Kerze. Die kleine zierliche und doch so mächtige Flamme, erlosch von einen Moment auf den anderen. Dad starrte auf die Stelle, an dem sie eben noch fröhlich getanzt hatte. Dann blickte er auf. Sein Blick war starr und durchdringend, ebenso gruselig wie fremd. Seine Haare standen noch wilder ab als sonst; er war noch blasser.
"Dad" hauchte ich atemlos. "Lilli" seine Stimme klang hohl, von der Wärme, mit der er mich sonst begrüßte, war nichts mehr da. "Setz dich" sagte er und ich erschrak, so normal und väterlich klang er plötzlich. Ohne zu antworten, zog ich einen Stuhl zurück und tat wie mir geheißen. Mit einer Bewegung, die sich anfühlte, als ob sie nicht zu meinem Körper gehörte, griff ich nach dem Feuerzeug und ließ die Flamme erneut aufleuchten. Sie reckte sich in die Höhe, als wäre sie froh, endlich wieder atmen zu können.
"Was ist los?" fragte ich, froh, dass meine Stimme einigermaßen mitspielte. "Lilli, ich will, dass du mir jetzt zuhörst. Egal, was ich jetzt sage, unterbrich mich nicht. Auch wenn dir klar wird, dass es dein Leben verändern könnte". Der Regen prasselte leise seinen steten Rhythmus; draußen hörte ich ein Auto die Hudson hinauf fahren. Als Jonathan Willson begann, seine Geschichte zu erzählen, die mein Leben so grundlegend verändern würde, war mir noch nicht bewusst, wie unvorhersehbar die Zukunft ist. Heute weiß ich es.
"Es war vor zwei Jahren" fing er an, "da empfing ich erstmals einen Brief. Er war ohne Absender verschickt worden und nur mein Name, ohne Adresse, war darauf gedruckt. Sein Inhalt" er hielt kurz inne, "Dort stand... Ich wurde erpresst. Von da an wusste ich, dass jemand zu viel wusste. Er hatte es einfach so geschrieben: 'Ich weiß es'. Ich habe etwas Schlimmes getan, Lilli." Ich bekam eine Gänsehaut. "Ich werde dir nicht sagen was, vielleicht werde ich das nie. Nach diesem Brief kam nichts mehr. Bis heute. Er will mit dir sprechen, Lilli. Nur mit dir. Wenn ich dich nicht gehen lasse, wirst du sterben." Wie in Zeitlupe sah ich, dass er mir ein Blatt zuschob. In deutlichen Lettern war dort nur ein Wort geschrieben:
UNFORGIVABLE.
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Unforgivable
RomanceLilli lebt zusammen mit ihrem Vater ein ganz normales Leben in London. Normal bis zu dem Tag an dem sie erfährt, dass ihr Vater erpresst wird. Von jemandem, der nur mit ihr reden will. Dieser jemand ist Alec. Der leider verdammt schöne Alec.