Verluste

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Jola

Da sehe ich sie drei der wichtigsten Personen in meinem Leben. Papa, Paul und Mike.
Alle drei grinsten vollkommen euphorisch in die Kamera. Mike mit seiner neuen StarWars Mütze, die Papa ihm einfach mitgebracht hatte, als er sie sah. Eigentlich war es viel zu warm für eine solche Mütze, aber Mike bestand auf genau diese. Er wollte keine Basecap, sondern "apis neue Ütze.", auch wenn er schon fünf Jahre alt, war, sprach er nicht perfekt.  Er hatte einen Sprachfehler. Einmal in der Woche musste er deswegen zum "pielen". Außerdem trug er seit drei Jahren Hörgeräte. Nachdem Mama das Foto gemacht hatte, alberte er von uns rum:" ih ürft nich mifahre na na na!", dazu hielt er sich die Hände an den Kopf, winkte und streckte Mama und mir die Zunge raus. Paul warnte ihn scherzhaft:" Mikie sei nicht so frech, sonst lassen wir dich nachher hier und du musst mit Mama und Jola ein Frauen-Wochenende verbringen."
Mike reagierte, als hätte Paul einen Schalter umgelegt. Er stand ganz gerade und salutierte, wie ein Soldat. Dann verzog er sein Gesicht zu einer unfassbar witzigen Grimasse, er versuchte angeekelt zu schauen und plapperte:" ihhh ei rauen-Wochenen bäää!". Ich lachte. Mama grinste und sagte ihm, dass er einstiegen sollte. Natürlich nicht ohne ihr noch einmal einen dicken Schmatzer zu geben. Ich drückte Papa und wünschte meinen Brüdern viel Spaß. Mama und ich standen an der Straße bis das Auto am Horizont verschwunden war.

Heute. Fünf Jahre später.
Ich schiebe Mike in seinem Rollstuhl zur Logopädie. Das wöchentliche "Spielen", ist vermutlich das einzige, was sich in den letzten fünf Jahren nicht geändert hat. Obwohl eigentlich hat sich auch da einiges geändert. Seine erste Therapeutin hat die Therapie abgebrochen. Ein 'solcher Fall' sei ihr zu kompliziert.
Wir gehen in die Praxis. Die junge Therapeutin begrüßt uns beide freundlich. Sie kennt auch meinen Namen. Doch ich grüße sie nicht zurück. Ich schaue vom Boden auf und lächel in ihre Richtung. Ich weiß nicht, ob sie weiß, dass ich nicht unhöflich bin. Ich kann einfach nicht mehr reden. Also mein Gehör ist komplett in Ordnung und auch meine Stimmbänder sind intakt. Mit Mama, Papa, Mike und vor allem mit Paul kann ich sprechen, aber mit fremden Leute nicht. 'Selektiver Mutismus' sagte damals eine Therapeutin dazu. Als ich aufhörte zu sprechen, musste ich die Schule wechseln. Die Grundschule meinte ich gehöre auf eine Förderschule, weil ich nicht normal entwickelt wäre. Die neue Schule ist allerdings gar nicht so schlecht. Es ist nicht so eine Förderschule, wie Mike besuchen müsste, wenn es für ihn keinen Inklussionsplatz gäbe. Ich kann an der Schule einen Realschulabschluss  schaffen, außerdem sind immer zwei Lehrer in der Klasse anwesend, obwohl wir insgesamt nur elf Schüler in der Klasse sind. Manche Lehrer sind etwas fies, aber das wären die Lehrer an einer normalen Schule vermutlich auch. Ein Lehrer hat mal gesagt hat, dass mir ja kein Abschluss etwas bringen würde, wenn ich mich weiterhin weigern würde zu sprechen. Ich sei ja nicht behindert. Wenn ich wollte, könnte ich sprechen. Ich will so gerne sprechen, aber ich kann es nicht. Es funktioniert einfach nicht. Aber das versteht der Lehrer nicht. Wie sollte er auch. Selbst meine Mutter versteht es nicht immer. Manchmal fleht sie mich an endlich mit dem Schweigen aufzuhören. Einmal als ich ihr von dem Lehrer erzählt habe, meinte sie bloß": ja, so ein bisschen Recht hat er ja schon." Ein anderes mal reagierte sie total empört:" wie kann der nur so etwas behaupten? Das ist entmutigend. Ich werde auf jeden Fall ein Gespräch mit ihm führen, sobald ich Zeit habe." Diese Zeit hat sie scheinbar immer noch nicht gefunden. Aber ich kann ihr da keinen Vorwurf machen. Sie ist Oberschwester in einem Krankenhaus, welches komplett unterbesetzt ist. Doppelschichten sind da leider so etwas, wie Routine. Nach der Schicht fährt sie mit der U-Bahn zu Papa in die Privatklinik, die seine Eltern seit drei Jahren finanzieren.
Wenn sie dann zurückkommt, ist sie oft so geschafft, dass sie sogar hin und wieder während des Essens einschläft. Einmal hat sie mir gesagt, wie dankbar sie mir ist, dass ich so viel im Haushalt schmeiße. Jemand muss das ja machen. Neben der Arbeit und den Besuchen bei Papa muss sie auch noch Anträge ausfüllen oder sich mit der Krankenkasse auseinandersetzen. Ständig braucht Mike etwas neues. Eine Orthese wegen seiner Fußfehlstellung, ein neues Ersatzteil für den Rollstuhl oder manchmal nur eine neue Therapie Verordnung vom Arzt. Hinzu kommt noch die unzuverlässige Integrationskraft, die Mike in der Schule unterstützen soll. Oft meldet sie sich einfach krank oder vergisst wichtige Informationen zu übermitteln. Wenn Mama Zeit hat,  will sie sich auch darum kümmern. Doch jetzt steht erstmal der Schulwechsel an. Mike soll auch nach der Grundschule inklusiv beschult werden. Er ist nicht dumm oder geistig behindert. Er kann sich nur noch sehr wenig bewegen und hat eine starke Sprachstörung. Durch die geschädigt Mundmotorik läuft ihm viel Sabber aus dem Mund. Das sieht nicht schön aus. Aber mal ehrlich Mike kann nichts dafür. Das ist auch kein Zeichen von Dummheit. Er kann seine Muskeln nicht so kontrollieren, dass der Sabber drin bleibt. Ich hasse die Leute, die uns finster anstarren, wenn wir spazieren gehen. Manchen Menschen würde ich gerne an den Kopf knallen, dass der Junge den sie so blöd angestarrt haben hundert mal klüger ist, als sie. Aber das kann ich nicht.
Ich hoffe ,dass die Logopädie Mike hilft. Er kann Dank der Therapie endlich wieder schlucken. Seitdem er das mit der Therapeutin gemeinsam erreicht hat, arbeiten sie an dem Sabberproblem und an der Zunge. Vielleicht schafft er es irgendwann wieder zu sprechen. Wobei wir auch so gut mit ihm kommunizieren können. Mit den Jahren bin ich eine Meisterin der ja-/Nein-Fragen geworden. Bei Ja fängt Mike an zu grinsen, wenn er Nein sagt, schließt er die Augen. Außerdem gibt es Unterschiede bei seinem Glucksen.

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