Himmel oder Hölle

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Jola

Als ich aufwache, habe ich das Gefühl im Himmel zu sein. Um mich herum ist alles weiß und ich schwebe auf einer Wolke. Die Reise hierhin muss allerdings sehr viel anstrender gewesen sein, als ich angenommen habe. Mein Kopf brummt ganz schön. Auch mein Magen macht ziemlich Radau. Ich habe das Gefühl, dass ich mich jeden Augenblick übergeben muss. Ich bin so schlapp, als hätte ich drei Jahre nicht mehr geschlafen. Langsam versuche ich meinen Oberkörper aufzurichten. Doch ich scheitere kläglich. Ich habe überhaupt keine Kraft. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das Licht und ich erkenne, dass ich nicht im Himmel bin. Ich liege in einem Krankenhauszimmer. Das weiße Licht um mich herum ist die Sonne, die durch die weißen Lamellen im Fenster scheint. Die Wolke auf der ich liege, ist die ein Krankenbett. Mit der Zeit entdecke ich die Kabel an meinem Körper. Ich taste vorsichtig nach dem Schlauch in meiner Nase. Mühsam drehe ich den Kopf zur Seite und sehe den Monitor. Es ist der selbe, wie Papa hat. Er misst alle wichtigen Vitalfunktionen. Herzschlag, Atemfrequenz, Puls, Sauerstoffgehalt im Blut. Ich habe es nicht geschafft. Ich werde Paul nicht sehen. Mir wird noch schlechter. Nicht einmal umbringen kann ich mich.
Es dauert nicht lange bis eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters zu mir kommen. Sie sind mir fremd. Dennoch freuen sie sich offensichtlich darüber, dass ich wach bin. Die Frau bedient das Bett, so dass mein Oberkörper etwas angehoben wird.
Kaum merklich tropfen Tränen aus meinen Augen. Ich will, dass Mama da ist. Am liebsten will ich die Fremden anschreien, dass sie Mama augenblicklich her holen sollen. Aber kein einziges Wort verlässt meinen Mund. Der Mann, ich nehme an er ist Arzt, fordert die junge Frau auf mir Blut abzunehmen. Erst da bemerke ich, dass in meiner Hand ein Zugang steckt. Sie nimmt die Infusion ab und entnimmt mir Blut, dann schließt sie die Infusion wieder an. Ohne ein Wort mit mir zu sprechen, verlassen sie das Zimmer. Ich bleibe in dem Zimmer gefangen. In meiner persönlichen Hölle. Ich stelle fest, dass neben dem Bett ein Vorhang hängt. Ich frage mich, ob da noch jemand liegt. Doch wie soll ich es herausfinden? Ich bekomme kein Wort heraus. Aufstehen, um den Vorhang zur Seite schieben, erscheint mir unmöglich. Ich bin so unendlich kraftlos. Jemand sollte mir endlich mal sagen, was hier los ist. Ich möchte wissen, was passiert ist. Ich will wissen, was schief gelaufen ist. Eine quälende Ewigkeit liege ich nur so im Bett. Irgendwann geht die Tür wieder auf. Ich hoffe es ist endlich Mama. Doch ich werde enttäuscht. Es ist nur Silke. Sie kommt zu mir und zieht sich einen Stuhl an mein Bett. "Was machst du nur für Sachen?", fragt sie. Ihre Stimme zittert und es klingt so, als bricht sie jeden Moment in Tränen aus. Das kann ich wirklich nicht nachvollziehen. Sie war so herzlos mir gegenüber, wieso fängt die jetzt fast an zu weinen?
Sie lässt mir gar keine Gelegenheit zu antworten, vermutlich hat sie begriffen, dass ich die Chance nicht nutzen würde.
"Wo hattest du die ganzen Medikamente überhaupt her? Es war so knapp. Gott sei Dank haben wir dich am Morgen gefunden." Sie streichelt mir über die Stirn. Ich drehe mich zur Seite und bin danach wieder vollkommen erschöpft. Silke verlässt das Zimmer. Sie versichert mir gleich wieder zurück zu kommen. Es dauert nicht lange bis sie mit der jungen Frau von heute wieder kommt. Ich wüsste gerne, wie spät es überhaupt ist. Die Sonne vor dem Fenster scheint längst nicht mehr so stark, wie bei der ersten Begegnung mit der Frau. Ohne auch nur eine der Fragen, die in meinem Kopf kreisen, zu beantworten, offenbart sie mir, wieso ich überhaupt hier bin:" Jola, es kann sein, dass du das folgende nicht mehr weißt. Das ist nichts ungewöhnliches. Du hast vor vier Wochen eine wilde Mischung an Medikamente gekommen unter anderem eine Überdosis Benzodiazepine und Valporinsäure. Deine Betreuer haben dich morgens ohne Bewusstsein im Bett gefunden. Sie leiteten Wiederbelebungsmaßnahmen ein, die dir vermutlich das Leben gerettet haben. Dabei wurde eine deiner Rippen gebrochen. Trotzdem mussten wir dich ins künstliche Koma versetzten. Nach drei Wochen haben wir das erste Mal probiert dich aufzuwecken, erfolglos. Wir müssen nun überprüfen, welche Defizite dein Körper hat. Sobald du von der Intensivstation entlassen wirst, erhälst du Physiotherapie. Außerdem wird eine Konsultation mit einem Psychiater stattfinden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass du nach dem Aufenthalt hier direkt in die KJP kommst. Das wird dir aber der Psychiater erklären." Das ist jede Menge aufeinmal. Jedoch irrt sie sich. Ich weiß noch ganz genau, dass ich die Medikamente genommen habe. Wenn ich nicht so lange an der Pro und Contra Liste gesessen hätte, wäre ich nicht mehr rechtzeitig gefunden worden. Das ärgert mich enorm. Mehr ärgert mich allerdings, dass ich jetzt keine Medikamente mehr übrig habe. Ich hatte nur diese eine Chance und ich habe versagt. Ich bin wütend auf mich.
Silke bleibt nicht mehr lange bei mir. Sie verabschiedet sich und sagt, dass die Gruppe mich besuchen wird, sobald ich nicht mehr auf der Intensivstation liege. Na toll, denke ich. Während ich im Bett liege, werden sie alle das Psychoopfer beobachten, das nicht einmal in der Lage ist sich umzubringen. Ich hoffe, dass ich niemals von der Intensivstation entlassen werde.
Doch genausowenig wie Gott oder wer auch immer für all das hier verantwortlich ist, meine Wünsche in den letzten Jahren erfüllt hat, bleibt mir auch der Wunsch verwehrt. Nach drei Tagen werde ich auf die Kinderstation verlegt. Das Zimmer teile ich mir mit zwei anderen Mädchen. Die eine hat einen Gips am Arm und einige Schrammen im Gesicht. Ich nehme an, dass sie einen Unfall hatte, der sie ins Krankenhaus gebracht hat. Das andere Mädchen ist bloss etwas blass im Gesicht. Ansonsten sieht sie relativ gesund aus. Am zweiten Tag bekommt sie Besuch von ihrer Mutter. Sie erzählt, dass sie den Rasierer dabei hat. "Okay lass uns der Chemo in den Arsch treten und die Haare abschneiden, bevor die Chemo es versucht!", johlt sie voller Kampfgeist. Sie geht mit ihrer Mutter ins Bad. Nach einer Viertelstunde kommt sie mit einer Glatze wieder raus. "Sieht gut aus, Lola!", sagt das andere Mädchen . Ich schaue Lola an und versuche zu lächeln. Am dritten Tag auf der Station kommt eine Frau, die sich mir als Ina vorstellt. Sie ist die Physiotherapeutin. Sie erklärt mir, dass wir daran arbeiten werden, dass meine Muskeln wieder reagieren, wie ich es möchte. Nach vier Wochen im Koma verkümmern die Muskeln schnell, doch sie lassen sich wieder gut aufbauen. Davon ist Ina fest überzeugt. Wir beginnen mit Schluckübungen. Zum ersten mal erkennen ich, wie anstrengend die selbstverständlichsten Handlungen sein können. Ich verstehe Mike nun noch mehr. Er muss täglich solche Kämpfe gewinnen. Ich fühle mich schuldig. Mein Bruder ist in fädieser Situation wegen einem Unfall ich bin dafür selbst verantwortlich. Nach einer Woche klappt das Schlucken wieder. Mir wird das Essen von einer Schwester angereicht, weil ich nicht selbstständig in der Lage bin eine Gabel zum Mund zu führen. Das Mädchen mit dem Gips ist entlassen worden.
Die Physiotherapie findet mittlerweile nicht mehr in meinem Zimmer statt, sondern im Physiotherapie-Raum. Ina holt mich dazu jeden Tag ab und setzt mich in einen Rollstuhl. Wir trainieren Arme, Schultern und Rumpf. Jedes mal nach der Einheit, die meist nur zwanzig bis dreißig Minuten dauert, habe ich das Gefühl einen Marathon gelaufen zu sein. In der Zwischenzeit kommt der Psychiater. Er fragt mich, wie es mir geht, doch ich gebe ihm keine Antwort. Auch auf die Frage, ob ich immer noch sterben möchte, kann ich nicht antworten, obwohl die Antwort deutlich in meinem Hirn leuchtet. Ich möchte noch sterben. Mehr als alles andere. Er erklärt mit, dass auf die Art wohl kein Weg an der geschlossenen Psychiatrie vorbei gehen würde. Ich sage immer noch nichts.
Es dauert einige mühsame Wochen bis ich wieder eigenständig laufen kann. Der Besuch von der Wohngruppe verläuft halb so schlimm. Uta kommt mit Angel und Till vorbei. Sie bringen mit einen großen Teddybären, Schokolade und ein Buch mit. Angel berichtet davon, dass sie mich echt vermisst, obwohl ich nicht lange da war. Ich glaube ihr kein Wort, weil ich nicht lange in der Wohngruppe war und sie mich nicht kennenlernen konnte.
Am nächsten Tag kommt Roland mit Marvin und Jerome. Diesmal bekomme ich Gummibärchen und ein  Rätselbuch "damit du nicht vor Langeweile eingehst", sagt Jerome.
Marvin bittet, kurz bevor sie gehen möchten, darum, dass er mit mir alleine sprechen darf. Nein, ich will das nicht, auf keinen Fall. Halte ihn auf, will ich sagen. Aber ich bleibe stumm. Jerome und Roland verabschieden sich. Marvin steht einen halben Meter von meinem Bett entfernt. Er blickt betreten auf seine Schuhe:"Nun,"murmelt er, "es tut mir leid. Ich hoffe du bist nicht wegen mir hier." Er macht eine Pause, bevor er weiterredet:"Das ist unsere Feuerprobe. Jeder Neue muss dadurch. Vielleicht haben wir bei dir übertrieben. Wir dachten du bist so eine Taffe, arrogant und abgehoben, weil du mit niemandem gesprochen hast. Es tut mir Leid." Er dreht sich nicht mehr um, sondern verlässt das Zimmer. "Wieso bist du eigentlich hier?", fragt Lola am Abend. Ich bin froh, dass ich ihr das nicht sagen kann. Sie kämpft jeden Tag um ihr Leben und ich möchte es einfach nicht mehr haben. Wenn ich könnte, würde ich direkt mit ihr tauschen. "Du kannst nicht reden, stimmst?", stellt sie nach einer Weile fest. Ich nicke zaghaft.
Eines Tages kommt Silke gemeinsam mit dem Psychiater zu mir. Sie informieren mich, dass es keinen Grund mehr gibt mich im Krankenhaus zu behalten. Am nächsten Morgen werde ich in die Kinder- und Jugendpsychiatrie verlegt.
Ich kann an diesem Abend nicht einschlafen. Meine Angst vor der Klinik ist viel zu groß. Außerdem vermisse ich Mama. Sie war kein einziges mal bei mir. Ich fühle mich verloren und ungeliebt. Außerdem bin ich richtig wütend auf Mama. Ich brauche sie so sehr. Doch sie lässt mich einfach alleine. Ich frage mich, ob sie mit mir abgeschlossen hat, weil ich ja jetzt in der Wohngruppe bin.

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