Veränderungen

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Aurelia

Aurelia war wenig begeistert, als sie nach dem Aufenthalt im Krankenhaus in die Psychiatrie kam. Ihr Vater kam extra aus Hamburg vorbei, um bei dem Aufnahmegespräch dabei zu sein. Sie saßen zu dritt bei Frau Dr.Sandmann und dem Therapeuten Herrn Martin im Ärztezimmer und unterhielten sich. "Bei Anorexie-Patienten und Patientinnen ist es so, dass wir nach einem Stufenplan arbeiten, da eine Gesichtszunahme ein wichtiger Bestandteil für eine erfolgreiche Therapie ist. Es gilt zu berücksichtigen, dass die richtige Therapie erst dann beginnt, wenn die letzte Stufe erreicht wurde. Aurelia du bist jetzt in Stufe 0.", sie reichte Aurelia einen Zettel mit den verschiedenen Stufen:

Stufe 0: BMI 14 oder tiefer.
Zunahme von 700g pro Woche.
Portionen werden vorportioniert .
Therapieangebote nur auf der Station. Kontaktsperre und Besuchsverbot. Nach jeder Mahlzeit eine halbe Stunde Liegezeit.
Kein Ausgang.
Kein Schulbesuch.

Portionen sind vorportioniert.
Stufe 1: Zunahme von 700g pro Woche. Therapieangebote nur auf der Station. Kontaktsperre und Besuchsverbot.
Nach jeder Mahlzeit eine halbe Stunde Liegezeit.
Eine  Viertelstunde Ausgang mit Pflegepersonal.
Kein Schulbesuch.

Stufe 2
Portionen dürfen selbst portioniert werden, unterliegen einer Kontrolle.
Zunahme von 700g pro Woche. Musik oder Kunsttherapie, sowie Ergo.
Teilnahme an Kochkursen.
Besuch einmal pro Woche .
Eine halbe Stunde Liegezeit nach den Mahlzeiten.
Zwei mal eine halbe Stunde Ausgang mit den Eltern oder dem Pflegepersonal.
Eine Stunde Schule pro Tag.

Stufe 3
Portionen dürfen selbst portioniert werden, unterliegen einer Kontrolle.
Zunahme von 700g pro Woche.
Alle Therapieangebote bis aus Bewegungstherapien sind möglich.
Teilnahme an Kochkursen.
Besuche zu den Besuchszeiten sind möglich.
Zwei Stunden Ausgang mit dem Pflegepersonal oder den Eltern.
Schulbesuch nach Plan.

Stufe 4
Portionen dürfen selbst portioniert, unterliegen einer Kontrolle.
Zunahme von 700g pro Woche. Alle Therapieangebote bis aus Bewegungstherapie sind möglich.
Teilnahme an Kochkursen.
Besuchezu den Besuchszeiten sind möglich.
Freier Ausgang mit Mitpatienten nach Stationsregeln.
Schulbesuch nach Plan.
Belastungsproben am Wochenende.

Stufe 5
Portionen dürfen selbst portioniert werden.
bis zum Zielgewicht 500g Zunahme pro Woche.
Alle Therapieangebote möglich.
Teilnahme an Kochkursen.
Besuche zu den Besuchszeiten sind möglich.
Freier Ausgang mit Mitpatienten nach den Stationsregeln.
Schulbesuche nach Plan.
Belastungsprobe mit Übernachtung am Wochenende.


Nachdem Aurelia den Zettel durchgelesen hatte, fragte sie erstaunt:"Ich darf nicht in die Schule? In dem Krankenhaus wurde mir versprochen, dass ich wieder zur Schule darf. Wie soll ich das alles nachholen?" Aurelia sprach immer schneller und wurde immer hysterischer.
Aurelias Mutter versuchte sie zu beruhigen. Sie legte eine Hand auf ihren Oberschenkel und erklärte:"Schatz, wenn ich das richtig verstanden habe, musst du dazu nur genug zunehmen. Dann kannst du auch wieder zur Schule. Du hast es in der Hand."
"Deine Mutter hat es verstanden", bestätigte Frau Dr.Sandmann.
Sie hat gar nichts verstanden. Ich kann nicht zunehmen. Das geht nicht.
Missgelaunt wurde Aurelia von Schwester Anke auf ihr Zimmer begleitet. Dort hatte sie kurz Zeit sich von ihren Eltern zu verabschieden. Als sie fort waren, schaute Anke noch mal bei ihr vorbei. Anke war ungefähr so alt, wie Aurelias Mutter. Sie hatte kurze blonde Haare und war eher stämmig.
"Komm erst mal an, Aurelia. So eine Klinik ist oft ganz gut, um mal Abstand zu gewinnen.", beruhigte sie Aurelia.
"In wie fern Abstand?", horchte Aurelia nach.
"Abstand von allem, was Druck macht oder Stress oder für Streit sorgt. Familie, Schule, manche Freundschaften vielleicht. Gibt es da nicht etwas, wo du dir Abstand wünscht?"
Aurelia gab keine Antwort. Sie dachte jedoch lange über die Worte nach. Als das Mädchen, das mit ihr auf dem Zimmer lebte, stellte sich Aurelia sich als 'Lia' vor. Das war der Spitzname, den Noah ihr gab. Damit hatte sie das Gefühl, dass sie wirklich Abstand zu allem gewinnen konnte. "Hi, ich bin Isabella.", erklärte das Mädchen.  Sie schaute Lia einen Augenblick an, bevor sie sich traute zu fragen:"Was ist das eigentlich für ein Schlauch in deiner Nase?" Unwillkürlich griff Lia sich an die Nase, dann sagte sie:"Das ist eine Sonde. Darüber bekomme ich oft Nahrung verabreicht. Weil ich zunehmen muss."
"Bist du deswegen hier?", fragte Isabella.
"Ja. Sie nennen es Anorexia nervosa mit mittelschwerer depressiven Episode. Wieso bist du hier?"
"Depression und selbstverletzung. Aber ich bin jetzt fast zehn Wochen clean wenn es für läuft werde ich in bald entlassen."
"Wie lange warst du dann hier?"
"Insgesamt sechzehn Wochen."
Lia war geschockt. Vier Monate. Mit so einer langen Zeit hatte sie keinesfalls gerechnet. Als sie ihre Stimme wieder fand, fragte sie:"Bleiben alle so lange?"
"Nein", antwortete "das ist absolut unterschiedlich. Mache bleiben nur acht oder zwölf Wochen. Wieder andere sechs oder sieben Monate."
Kurz nach dem Gespräch gingen die beiden zum Essen. Lia bekam einen Teller von Anke. Außerdem ein Schälchen Salat und einen vollfett Jogurth. "Muss ich das alles Essen?", fragte Lia ungläubig.

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