Träume

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Ben

Im Eingang roch es nach Pisse. Irgendein Penner hatte vermutlich mal wieder Obdach im Flur gesucht. Als ich zum Fahrstuhl ging, kam mir der Geruch von Kotze entgegen. Vielleicht war es doch kein Obdachloser, sondern nur einer von den Säufern. Davon gab es hier immerhin genug. Der Geruch von Pisse, Kotze oder Bier war hier nicht unüblich. Genauso, wie die Spritzen, die immer mal wieder im Treppenhaus rum flogen. Ein paar Mütter beschwerten sich häufig wegen der Kinder darüber. Oft sammelten sie die ein, aber dennoch fand ich fast jeden Tag wenigstens eine. Ich lief die Treppen in den 9. Stock, in den müffelnden Aufzug wollte ich nicht einsteigen. Völlig außer Atem stand ich vor der Tür. Ich hörte Joel heulen. Möglichst leise schloss ich die Tür auf. In dem vermüllten Flur stolperte ich über eine Kiste, die da gestern noch nicht stand. Das nahm ich zumindest an. Bei all dem Gerümpel verlor ich schnell den Überblick. Mein Plan mich in die Wohnung zu schleichen ging mächtig in die Hose. Mama torkelte in den Flur. "Verpissss diiich Eindringling!", säuselte sie und gab mit eine saftige Ohrfeige. "Mama ich bin's Ben!", flehte ich. "Nein Bisse nich min Benny der weiß, wo watt steht. Du bis'n Eindringling. Ich verrat dir gar nix!" Sie packte mich am Kragen und kreischte:" Jetzt raus mit dir."
Tränen stiegen mir in die Augen. Ich ließ mich auf ihren Schub ein und gab zu:"okay Sie haben Recht, aber in dem Zimmer sitzt mein Kollege, der muss mit mir kommen!". Hektisch riss sie die Tür zu unserem Kinderzimmer auf und packte Joel. "Alles gut, er hat nichts getan. Er macht nur, was ich ihm sage", sagte ich mit der Hoffnung Joel zu beschützen. Ich nahm ihn auf den Arm und prompt wurden wir durch die offene Tür geschubst. Ich rannte mit Joel ein paar Stockwerke nach unten. Dann setzten wir uns. Er weinte immer noch unaufhörlich. Ich nahm in auf meinen Schoß und hielt ihn fest. "Hat Mama dir weh getan?", fragte ich nach einer Weile.
Er sagte kein Wort. Kaum merklich nickte er.
Ich saß am Tisch in der Küche und schaute all die Briefe an, die Mama noch nicht geöffnet hatte. Ich fragte sie, wieso sie die Briefe nicht aufmacht und sie erklärte mir, dass sie von den Eindringlingen kamen. Die Briefe durften wir auf gar keinen Fall aufmachen. Die Eindringlinge waren ganz böse Menschen, die alles versuchten, um uns aus zu spionieren. Manche klingelten an der Tür. Andere versteckten winzige Kameras in Briefen. Selbst beim Einkaufen gab es Eindringlinge. Wenn jemand Mama nach der Postleitzahl fragte, brüllte sie die Leute an, dass die Frau an der Kasse ein Eindringling war. Das passierte auch wenn Mama nach einer Paybackkarte oder ähnlichen Karten gefragt wurde. Jeder, der so eine Karte besitzte steckte mit den Eindringlinge unter einer Decke.

Es klingelte und ich lief zur Tür. Die Gegensprechanlage war, wie eigentlich immer kaputt und ich machte die Tür auf. Mama bekam das mit. Sie hatte ein Glas in der Hand und warf es auf mich mit den Worten:" du bisss ein Komplitze vom Eindringling. Wieso tust du uns dasss an?"

Puh. Es war nur ein Traum ich öffnete die Augen. Vorsichtshalber fuhr ich vorsichtig mit den Fingern an meiner Stirn entlang. Es tat weder weh, noch bemerkte ich das Blut. Die Narbe, die das Glas hinterließ, konnte ich dafür deutlich spüren. Keine zwei Minuten nachdem ich aufgewacht war, stand Anja in meinem Zimmer. Leise trat sie an mein Bett und machte zusätzlich zu dem Nachtlicht, die Lampe neben meinem Bett an. "Hast du mal wieder schlecht geschlafen?", fragte sie fürsorglich. Sie setzte sich neben mich auf das Bett. Instinktiv rutschte ich von ihr weg dichter zur Wand hin. "Soll ich dir einen Tee kochen?", ich bekam nach Alpträumen immer einen Tee. Sogar richtigen. Der musste ziehen. Bei Mama gab es immer nur Tee aus Krümmeln, den man rühren musste. Anfangs mochte ich Anjas Tee gar nicht. Sie begann dann da Honig rein zu machen. Mittlerweile fand ich den sogar ohne Honig lecker. Sie kochte mir den Tee und blieb solange bei mir bis die Tasse leer war.
Am nächsten Tag gab es für uns alle Geschenke. Nicht nur Joel und ich wohnten bei Anja. Auch noch Luka und Ella. Luka zog vermutlich bald in eine andere Familie. Der war nur hier, weil Anja und ihr Mann Artur die Bereitschaftspflege für ihn machten. Ella war die älteste von uns, obwohl sie mit ihren 15 Jahren nur zwei Monate älter war als ich. Sie war das einzige leibliche Kind von Anja und Artur. Als wir die Geschenke bekamen schämte ich mich ziemlich vor ihr. Ich bekam ein Stofftier. Am Abend erklärte Anja mir die Funktion von der Schildkröte. Es war ein spezielles Nachtlicht. Außerdem machte das Vieh Meeresgeräusche. Angeblich hatte es eine beruhigende Wirkung. Anja hoffte ,dass ich damit weniger Alpträume hätte. Joel und Luka bekamen auch Nachtlicht-Stofftiere. Aber ihre leuchten viel bunter. Die Schildkröte verwandelte mein Zimmer durch das sanfte blau in eine Unterwasserlandschaft. Alleine das Licht wirkte an dem Abend beruhigend.
Seit einigen Wochen hatte ich zum ersten mal keinen einzigen Alptraum. Ich kam am Morgen viel ausgeschlafener aus dem Bett. Auch bei dem Training mit Artur konnte ich besser mithalten. Ich hatte starkes Übergewicht, als ich zu Anja und Artur kam. Bei Mama gab es kaum Obst oder Gemüse. Eigentlich gab es überhaupt kein Essen, außer tiefgekühlte Pizza. Ich dachte auch lange Zeit, dass Limo das selbe, wie Säfte waren. Anja brachte mir gesunde Ernährung näher und Artur trainierte regelmäßig mit mir. Ich war sehr froh über diese Hilfe. Ich hatte in den letzten Jahren schon deutlich an Gewicht verloren, doch war ich immer noch ziemlich dick. Mama gab mir jedes mal Schokolade, nachdem die mich schlug oder wenn irgendetwas anderes schlimmes passierte. Süßigkeiten waren immer mit Liebe verbunden. Das hatte sich auch bei Anja nicht verändert. Nur, dass sie uns selten welche gab. Einen Großteil meines Taschengeldes investierte ich in Süßigkeiten.

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