nur keine Süßigkeiten

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Aurelia

Aurelia stand im viel zu vollen Bus. Krampfhaft klammerte sie sich an der Haltestange fest. Das gab ihr Sicherheit. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. 8:03 noch genau zwölf Minuten bis zur Mathearbeit. Habe ich genug gelernt?
Noch elf Minuten. Was ist wenn ich die Aufgaben nicht verstehe?
Noch zehn Minuten. Kann ich wirklich alle Formeln auswendig?
Y=mx+b
A^2+b^2=c^2
Noch neun Minuten. Oh Mist wie war noch gleich die pq Formel?
P halbe Plus minus die Wurzel aus ,ja was denn noch.
Noch acht Minuten das Herz schlug schneller.
Noch sieben Minuten. Was wenn ich die Klassenarbeit verhaue?
Noch sechs Minuten. Sie verlies den Bus . Einatmen und Ausatmen.
So leicht ließ sich die Panik, die gekommen war, nicht abschütteln. Sie eilte über den Schulhof ins Gebäude.  Auf dem Flur vor dem Klassenzimmer traf sie Noah. "Hey Lia, ist dir ein Gespenst begegnet?", fragte er und grinste sie mit seinen zahnspangenbedeckten Zähnen an. Noch fünf Minuten.  "Kein Geist . habe Pq-Formel vergessen." keuchte Aurelia kurzatmig. Noch vier Minuten.  Noah fing schallend an zu lachen. "Die kann ja selbst ich. x = -p/2 √((p/2)2-q)," trällerte er melodisch. "Du kannst das Lia. Wer wenn nicht du?" fügte er aufmunternd hinzu. Noch drei Minuten.  Aurelia war froh Noah an ihrer Seite zu haben. Doch auch ihr bester Freund konnte sie nicht beruhigen. Sie versuchte zu lächeln und sagte knapp:" ja stimmt. Wird schon." Wie war das jetzt noch? x = -p/2 √((p/2)^2-q) Puh. Noch zwei Minuten.
Sie atmete tief ein und aus. Es klingelte und gleichzeitig mit dem Gong kam auch schon Herr Meyerhoffen den Flur entlang.
Der Klassenraum war schon für die Klassenarbeit vorbereitet, so dass die Tische nicht mehr in den üblichen  Gruppentischen standen. Noch eine Minute.
Die meisten Schüler drängelten sich in die hintersten Reihen. Aurelia setzte sich recht weit nach vorne. Zum Spicken war sie viel zu ehrlich und nervös war sie bei jeder Arbeit. Dabei war es unerheblich, ob sie hinten oder vorne saß.
Die Hefte samt Aufgabenblätter wurden  ausgeteilt. In der unruhigen Klasse kehrte Ruhe ein. Aurelia spürte, wie schnell ihr Herz schlug. Einen Moment schloss sie die Augen. Tief ein und Ausatmen und Ruhe bewahren.
Sie öffnete die Augen und verschaffte sich einen Überblick über die Aufgaben. Erleichterung kam ihn ihr auf. Auf den ersten Blick schien es als könne sie alle Aufgaben lösen. Ihr Puls sank ab und sie erledigte eine nach der anderen.
Die 90 Minuten vergingen, wie im Flug. In der Pause war die Arbeit das Gesprächsthema Nummer eins. "Aurelia, du hast doch bestimmt eh wieder eine eins." kritisierte Mark. "Ja, Mathe kann die, aber wie man sich kleidet, dass weiß sie immer noch nicht," spottete Alina. Kichernd wendete sie sich ihrer Clique zu. Die Mädchen begannen über all die modische Fehltritte von Aurelia zu lästern. Der restliche Schultag zog sich unendlich lang. Doch das störte Aurelia nicht. Sie hätte sich gefreut, wenn der Schultag noch länger dauern würde. Normalerweise verbrachte sie nachmittags viel Zeit mit Noah auf dem Sportplatz  oder in der Schwimmhalle.  Doch an diesem Tag wollten ihre Eltern mit ihr und ihren beiden Brüdern sprechen. Auf der Rückfahrt mit dem Bus verkrampfte sie sich wieder. Sie war ähnlich nervös, wie vor der Mathearbeit am Morgen. Heute stand das Gespräch mit ihren Eltern an.
Bei dem Gedanken an ihre Eltern musste sie unweigerlich ein stummes Lächeln unterdrücken. Ihre Eltern waren seit Jahren keine Eltern mehr. Sie lebten nur noch an einander vorbei. Ihr Vater, der jeden Tag 12 Stunden arbeitete und jeden Abend noch wenigstens eine Stunde mit seiner Kollegin in einer Bar hockte, um seiner Ehefrau nicht mehr begegnen zu müssen. Ihre Mutter hingegen wollte die perfekte Mutter sein, die nebenher ihre eigene Praxis für Naturheilkunde betrieb . Dass seit Jahren eine Putzfrau für Ordnung und eine hauswirtschaftliche Kraft für saubere Wäsche sorgte war ein gut behütetes Geheimnis. Heute wollten ihre Eltern ein letztes mal als Einheit auftreten. Aurelia und ihr großer Bruder Maxi hatten schon vor Wochen gemerkt, dass ihre Eltern endlich den Weg Richtung Scheidung einschlagen wollten. Die Stimmung Daheim wechselte von kühl zu eisig. So war Aurelia eigentlich froh, dass heute endlich die Wahrheit auf den Tisch kommen sollte. Es wird sich ja nichts ändern.  Der Bus hielt und Aurelia schlenderte die paar hundert Meter bis zur Einfamilienhaus Siedlung. Wenn sich nichts ändern wird, wieso habe ich dann diesen Knoten im Magen?  Während sie so langsam durch die ihr zu gut bekannte Siedlung lief, dachte sie plötzlich an all die anderen Familien und deren Schicksale.
Die Hofmanns hatte das Schicksal sehr hart getroffen. Vor ein paar Jahren verursachte  Jürgen,  der Vater der Kinder, einen schweren Autounfall. Der älteste Sohn starb noch am Unfallort. Mike, der kleinste hat seitdem eine schwere Behinderung und Jürgen selbst liegt seitdem im Koma.  Kurz nach der Tragödie bot die ganze Nachbarschaft Hilfe an. In einer Nachbarschaft halten alle zusammen, hieß es. Während Mike noch in der Reha war, passte jemand auf Jola, die mittlere der drei Kinder auf. Die Familie wurde mit Essen versorgt. Doch nach und nach ließ all die Hilfe nach. Ute Hofmann wurde kaum noch gesehen. Sie pendelte regelmäßig vom Krankenhaus zur Arbeit zu ihren Kindern. Wer ihr zufällig über den Weg lief, erkundigte sich oberflächlich und bot Hilfe für irgenwann mal an. Doch niemandem fiel auf, wie dünn sie geworden war und niemand erkannte, wie leer ihr Blick schien.

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