22 | Castor

262 46 80
                                    

_________________

| 22 |

c a s t o r

november 2032

_________________

„Ich will unser Baby bloß einmal in meinen Armen halten dürfen, Lottie. Bloß ein einziges Mal."

„Das wirst du, okay? Ich werde ihn schon aus mir herausbekommen, zur Not schneiden sie mich einfach offen."

„Das ist nicht witzig."

„Du bist es auch nie, aber trotzdem lache ich über deine Witze, Sternenjunge."

Es war einer der Tage, an denen Charlotte Styles nicht zur Arbeit musste und zuhause im Bett liegen bleiben konnte, bis die Sonne ihre Augenlider zu sehr kitzelte. An diesen Tagen kuschelte sie sich unter die Bettdecke und schloss die Augen, während sie von den vergangenen Zeiten träumte. Von Konzerthallen und Küssen und ihrem Sternenjungen. Immer wieder ihrem Sternenjungen.

An diesen Tagen schwebten die Erinnerungen vor ihren Augenlidern vorbei, wurden in frische Farbe getaucht und verschwanden dann doch wieder, sobald sie die Augen öffnete. Doch auch wenn sie wieder vergangen waren, wenn sie bereits wieder endgültig wach in der Realität angekommen war, war es mittlerweile in Ordnung in diesem Leben. Sie vermisste ihren Sternenjungen, würde ihn immer vermissen, aber sie hatte gelernt, ohne ihn zu leben. Eine Weile zumindest, bis sie ihn dann irgendwann wieder sehen würde.

An diesen Tagen riss kein Wecker sie zu unlauterer Stunde aus dem Schlaf, weil sie einen Fototermin hatte oder irgendeinen Künstler auf Tour begleiten musste. An diesen Tagen nahm sie sich die Zeit, um Noahs Lieblingsessen zu kochen, weil sie das Strahlen in seinen Augen liebte, wenn er nichtsahnend von der Schule nach Hause kam und seine favorisierten Speisen in der Küche entdeckte. An diesen Tagen telefonierte sie mit ihrer Mutter und mit Anne, erzählte ihnen von ihrem Leben und saugte die Geschichten in sich auf, die die beiden mit ihr teilten, während sie sich eine Weile lang wieder wie ein Kind fühlte.

Charlotte liebte diese Tage.

Es hatte lange gedauert, bis sie dorthin gekommen war. Bis die Stille ihr nicht mehr wie der größte Feind vorkam und sie nur daran erinnerte, dass all die Ruhe mit Harrys Worten gefühlt sein sollten. Nun war die Stille nicht mehr das Monster, sondern nur eine Zeit der Entspannung, bis Noah sie durcheinanderwirbelte.

Natürlich vermisste sie ihren Sternenjungen dennoch, jeden Tage, jede Stunde, jede Minute. Aber Vermissen war nicht schlimm, erinnerte es doch nur daran, wie viel Liebe sie in ihrem Herzen trug. Erinnerungen waren willkommen, solange man nicht weiter in der Vergangenheit lebte und es schaffte, in die Zukunft zu schauen.

Charlottes Zukunft war ein Junge mit wilden, braunen Locken und grünen Augen, die den seines Vaters so ähnlich sahen. Mit einem Grübchen auf der linken Wange und einem etwas kleineren auf der rechten. Mit Träumen und Wünschen, Hoffnungen und Ängsten.

Noah war es, der sie am Leben hielt und sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens.

Selbst in diesem Moment, als er mit viel zu viel Krach in den Flur geeilt kam und eine Spur Matsche durch das ganze Haus trug.

„Schuhe aus, Mister Styles!", rief Charlotte warnend und setze einen strengen Blick auf, der ihr selbst nach Jahren noch falsch auf ihren Gesichtszügen vorkam. „Ich habe heute Morgen gewischt."

boy in the stars || h.s. ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt