Prolog

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South East England, August 1991

Ihre Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt, sah Nava nach draußen auf die von Menschen übersäte Straße. Die Autos kamen zum Teil nur langsam voran, bahnten sich mühevoll eine Schneise durch das dichte Getümmel. Das schlichte Hotel, in welchem sie seit einigen Wochen ein Zimmer bewohnte, lag am Rande einer Kleinstadt, nicht weit entfernt von London. Die in der Muggelwelt als etwas veraltet geltende Kutsche, welche von dort aus gut sichtbar zur Abfahrt bereitstand und mit zwei Rappen bespannt war, stach deutlich zwischen den modernen Fahrzeugen hervor. Auch wenn ihr Blick den dortigen Bewegungen folgte, waren Navas Gedanken weit von alldem entfernt. Es war in erster Linie das Heimweh gewesen, das sie nach dieser doch recht langen Zeit nach Hause trieb, zurück nach Hogwarts. Dorthin, wo Zauberei der Wirklichkeit entsprach, wo sie sich nicht länger verstellen musste und ihr altes Leben auf sie wartete, welches sie so sehr vermisste. Ungestillte Neugier hatte sie damals in diese verrückte Welt getrieben, doch nun war sie heilfroh, dort nicht länger bleiben zu müssen. Seit ihrer Kindheit suchte Nava nach den Spuren ihrer Vergangenheit und dennoch blieb die wichtigste ihrer Fragen weiterhin unbeantwortet: Wer war sie? In ihren Augen war Dumbledore, den sie nach all den Jahren als ihren leiblichen Vater ansah, der weiseste Mann, den sie kannte und doch hatte selbst er keine Antwort darauf. Er hatte sie einst als kleines Mädchen adoptiert und unter seiner Obhut großgezogen. An ihre wahren Eltern konnte sie sich nicht erinnern. Es gab kein Zeichen, kein Andenken, nicht den kleinsten Hinweis auf sie, nichts. Sie hatte Hogwarts verlassen, um dieser Ungewissheit ein Ende zu bereiten, doch ihre Suche war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Schließlich hatte sie aufgegeben, versuchte nurmehr, sich mit diesem Umstand abzufinden, indem sie sich wieder dem Alltag in ihrer Welt widmete. Das war jedoch nicht der einzige Grund, der sie mehr oder weniger dazu verleitet hatte, den Rückweg anzutreten. Einerseits war es das mulmige Gefühl in ihrem Bauch, welches für gewöhnlich nichts Gutes verhieß und dafür sorgte, dass ihr Unmut stetig wuchs. Andererseits gab es da noch etwas Neues, etwas Leidenschaftliches. Als sie vor vier Jahren an die Schule zurückgeholt wurde, hatte der stets so emotionslose Zaubertrank-Professor begonnen, Gefühle für sie zu entwickeln. Gefühle, die sie in keiner Hinsicht erwiderte. Sie hatte stets eine gewisse Distanz gewahrt und ihn auf Abstand gehalten. Eine beachtliche Furcht, die sie aufgrund seiner düsteren Erscheinung und seiner Verschlossenheit empfand, war dabei nicht unbedeutend. Es hatte ihr gutgetan, während ihrer Reise nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, aber mittlerweile kam auch diese unangenehme Tatsache wieder an die Oberfläche. Im Gegensatz zu damals hatte sich etwas Entscheidendes geändert. Ein Teil von ihr fühlte sich, wie sie mittlerweile wusste, zu eben diesem düsteren Mann hingezogen. Sie vermochte nicht zu sagen, warum sie so für ihn empfand, sondern nur, dass es so war. Ihn wiederzusehen, wäre wohl die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, ob dieser innere Wandel wirklich der Wahrheit entsprach oder es sich nur um reine Einbildung handelte. „Sind Sie bereit, Miss?", ertönte in diesem Moment eine Stimme hinter ihr und riss sie aus ihren Gedanken. Der Kutscher, ein älterer, recht klein gewachsener Mann, steckte gerade seinen Kopf durch den Türspalt und sah abwartend zu ihr. „Ja, ich komme gleich", meinte Nava, warf noch einen letzten Blick hinaus auf die belebte Straße, bevor sie tief durchatmete und machte sich wenig später auf den Weg hinunter zur Kutsche.

Spinner's End, zur selben Zeit

Gelangweilt legte Severus Snape den Tagespropheten aus der Hand. In letzter Zeit geschah einfach nichts Interessantes mehr. Der dunkle Lord war seit einer Ewigkeit fort und somit nur noch ein düsterer Schatten seiner Vergangenheit. Mit seinem Tod war auch Lily gegangen. Die wundervolle, gute Lily, die ein Teil von ihm bis heute liebte und niemals vergessen konnte, wenngleich der Schmerz ihres Todes auch überwunden war und ihr Gesicht nur noch ein Bild, das ihm nicht mehr so klar wie einst vor Augen erschien. Es war bereits viel zu lange her, als dass er sich noch vollständig an ihr Aussehen erinnern konnte, doch ihre glänzend grünen, edelsteinartigen Augen sah er selbst jetzt noch vor sich. Er wusste, dass ihm in keiner Weise geholfen war, wenn er versuchte, weiter an der Vergangenheit und dem damit verbundenen Grauen festzuhalten, sondern vielmehr damit, das Hier und Jetzt zu genießen. Sich darauf zu konzentrieren, fiel ihm jedoch reichlich schwer, denn vor ihm lag ein weiteres Lehrjahr auf Hogwarts, das genauso sein würde wie jedes andere Jahr zuvor – die gleichen Probleme, mit den gleichen, nervtötenden Schülern, die Eintönigkeit des Alltags und vor allem die Einsamkeit. Früher hatte er eben diese mehr als alles andere genossen, doch seit SIE Hogwarts verlassen hatte, war alles anders. Sie hatte seinen harten Kern zum Schmelzen gebracht, hatte ihn seine Sorgen sowie den jahrelangen Kummer vergessen lassen. In ihrer Gegenwart hatte er sich stets jung und unbeschwert gefühlt. Er wollte nichts weiter im Leben als sie, ersehnte ihre Nähe und Liebe. Sein Geist lechzte nach ihr, nach ihrer engelsgleichen Stimme, nach ihrem einzigartigen Duft, der selbst den wohlriechendsten Kräutersud in seiner Braustube übertraf, ja sogar den der lieblichsten Rose. Ohne sie zogen die Tage sich unendlich in die Länge, er war nichts als eine wandelnde Hülle, gefühllos und abwesend. Sie Nacht für Nacht in seinen Träumen zu haben, schenkte ihm solche Freude, dass er die Welt verfluchte, wenn er am Morgen erwachte. Er hatte gehofft, dass sein Empfinden mit der Zeit nachlassen würde und er sie aus dem Kopf bekommen konnte, doch ihre Abwesenheit hatte eben dies nur verstärkt. Er liebte sie mehr denn je, mehr als er Lily jemals geliebt hatte. Alles, wirklich alles, würde er für sie tun. Das Loch in seinem Herzen wurde mit jedem Tag größer und es gab nur einen Menschen, der es wieder schließen konnte: Nava Dumbledore.

Der Schein trügtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt