1. Der Alptraum

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Hogwarts, September 1991

Mit jedem Meter, den die Kutschenräder über die harte Straße rollten, wuchs Navas Nervosität, was jedoch nichts im Vergleich war zu dem Moment, in dem sie die hoch aufragenden Türme des Schlosses erblickte, das majestätisch aus der sattgrünen Gebirgslandschaft hervorstach. Die altehrwürdigen Mauern warfen dunkle Schatten in das Tal, durch welches die orangerote Flut der untergehenden Sonne strömte. Das Hufgetrappel der Pferde hallte zwischen den Wänden wider, als die Kutsche das Ende der großen Steinbrücke erreichte. Sie fuhr in einem weiten Bogen bis kurz vor die breiten Stufen, die zum Eingangsportal führten, kam dort ruckartig zum Stehen. Nava warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, bevor sie die Tür öffnete und ihre Füße auf den festen Boden setzte. Josef, der Kutscher, hatte den Bock ebenfalls verlassen und war bereits geschäftig dabei, ihr Gepäck von der Ablage zu hieven. Sie sah sich um. Es kam ihr wie ein längst vergangenes Leben vor, in welchem sie hier gestanden und sich von ihrem Vater verabschiedet hatte. Dieser eindrucksvolle Anblick überwältigte sie jedes Mal aufs Neue, doch fühlte sich ihre Heimkehr anders an als früher. Auf unerklärliche Weise fremd und vertraut zugleich. Ihre Furcht wuchs bei dem Gedanken daran, die Bindung zu diesem Ort verloren zu haben, der ihr bei weitem mehr als die Zauberei selbst bedeutete. Der Platz schien wie leergefegt und auch sonst drang kaum ein Geräusch an ihre Ohren. Kein Wunder - es war der erste Tag des neuen Schuljahres und der Zug würde Hogwarts erst in einer knappen Stunde erreichen. Es blieb ihr also genügend Zeit, sich wieder einzugewöhnen. Mittlerweile hatte Josef all ihre Koffer abgeladen und begann herzlich die beiden Rappen zu umsorgen, die von der langen Fahrt glänzende Schweißperlen auf ihrem Fell trugen und erschöpft die Köpfe hängen ließen. „Ich danke dir", lächelte Nava dem alten Kutscher freundlich zu. Selbiger löste gerade die Riemen des Gurtes, der das Gespann mit der Kutsche zusammenhielt und nahm die Zügel in die Hand. „Willkommem daheim, Miss Dumbledore", verabschiedete er sich und nickte ihr, eine leichte Verbeugung andeutend, entgegen, bevor er die Pferde in Richtung des Unterstandes führte. Nava zog ihren Zauberstab unter dem Kleid hervor und richtete ihn auf die schweren Koffer neben sich.

Mit einem tonlosen „Wingardium leviosa", zeichnete sie eine rasche Bewegung in der Luft, worauf sich das Gepäck ein kleines Stück über den Boden erhob und neben ihr her schwebte. Es war ein wunderbares Gefühl, nicht länger auf Zauberei und das Leben in Hogwarts verzichten zu müssen. Wenn man als Hexe wie sie nicht gewohnt war, alles von Hand zu erledigen und sich an all die Hilfsmittel erst gewöhnen musste, die Muggel statt eines Zauberstabes verwendeten, tauchte in so manchen Fällen die eine oder andere Schwierigkeit auf. Ihre Bewunderung hatten die Muggel aber dennoch verdient, denn sie wussten sich in jeder Situation zu helfen – na ja, in beinah jeder.

Ein lautes Knarren ertönte, als Nava die Flügel des Portals öffnete, die kurz darauf mit einem wenig zurückhaltenden Knall hinter ihr ins Schloss fielen. Dann herrschte Stille, anhaltend vollkommene Stille, die nur durch das Mauzen der zerzausten Katze des Hausmeisters gestört wurde, welche gerade um den Pfosten der Treppe bog und hinter einer dicken Säule verschwand. Nava mochte Mrs. Norris ebenso wenig, wie jeder andere auch, doch solange ihr Besitzer Argus Filch nicht in der Nähe war, konnte sie die Schnüfflerin getrost ignorieren. Sie stieg langsam die unzähligen Stufen zum vierten Stock hinauf, in dem sich nicht nur die Bibliothek befand, sondern auch ihr altes Zimmer. Als sie oben angekommen den langen Flur durchquerte, stellte sie fern aller Erwartungen fest, dass sich nichts in Hogwarts verändert hatte. Alles war so wie immer. Friedlich, behaglich und aufgeschlossen. Vielleicht war gerade diese offensichtliche Eintracht der Grund, aus dem ihr der Verstand weismachen wollte, dass etwas nicht stimmen konnte. Sie drehte den Knauf der Tür und öffnete diese so weit, dass ihr Gepäck mühelos hindurchpasste. Mit einer erneuten Bewegung ihres Zauberstabes ließ sie es in der Mitte des Raumes sanft auf den Boden sinken. Selbst hier, in ihren Räumen war alles genauso, wie sie es verlassen hatte. Jedes noch so kleine Detail war, soweit sie im schummrigen Licht der Kerzen erkennen konnte, unberührt geblieben. Trotz der seltsamen Gegebenheiten erfüllte Zufriedenheit ihren Körper und Geist, so wärmend und vollkommen, wie sie schon lange keine mehr empfunden hatte. Sie hatte die hier herrschende Ruhe und den Frieden ebenso sehr vermisst wie ihren Vater und ihre Bücher.

Der Schein trügtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt