Gewöhnlich. Ein starkes Wort für einen Mann wie ihn. Gewöhnlich, wie alle anderen es waren.
Immer wieder kehrte dieses Wort in seine unaufhörlichen Gedanken zurück und es wollte sich in nächster Zeit auch nicht in Luft auflösen. Er strich sich mit seiner rechten Hand durch die dunklen Locken, die unordentlich in jede Richtung abstanden und nahm dann einen Stift in die Hand, um auf das vergilbte Papier, das auf dem Notenständer seinen Platz gefunden hatte, eine Note zu schreiben. A - eine gewöhnliche Note für einen so gewöhnlichen Mann. Kein Finger, Leersaite.
Er zweifelte an seiner Intelligenz, die ihm so lange das Gefühl der Überlegenheit gegeben hatte. Warum hatte er es nicht früher bemerkt? Dabei hatte sie es ihm bereits deutlich gezeigt. Sie, die Frau.Seine Gedanken wanderten gezwungenermaßen zurück zu der Violine, die er in der linken Hand hielt. Sie glänzte in dem noch jungen Licht der Sonne und strahlte so eine ungemeine Ruhe aus. Er kannte das Instrument gut. Jeder Kratzer und jede Verfärbung des Holzes war ihm bewusst, trotzdem langweilte es ihn niemals. Denn es ging nicht um die Unebenheiten oder die Schönheitsflecken. Es ging um die Erinnerungen und ja, auch um die Gefühle, die durch dieses Instrument flossen.
Er griff nach dem Bogen, den er wohl irgendwo auf dem Schreibtisch neben ihm, zwischen den ganzen Briefen und Zeitungen, hingelegt haben musste. Er spürte an seinen Fingerspitzen das raue Papier, das teilweise vorher nie von ihm berührt worden war. Es vegetierte seit Tagen, einiges sogar seit Wochen, einfach auf dem Tisch vor sich hin, flehend, doch ohne Hoffnung auf Aufmerksamkeit.Mit seinem Handrücken streifte er eine Tasse. Sie fiel klirrend zu Boden, der Tee ergoss sich über einige der alten und neuen Briefe, tropfte den Tisch herunter und floss dann über die dunklen Dielen. Sein Blick folgte ihm langsam. Er roch den charakteristisch zitronigen Geruch der Bergamotte, was ihn an die langen Nächte und auch Tage in Italien erinnerte. Teilweise hatte er sie experimentierend, teilweise unter Atemnot verbracht.
Bei dem Tee handelte es sich um Earl Grey.
Noch vom Vortag? Nein, der Tee war noch warm. Es musste wohl jemand gekommen sein und ihn gebracht haben. Er hatte es nicht bemerkt.
Was hatte er noch nicht mitbekommen?Er schaute zu einem der Sessel auf der anderen Seite des Raumes. Er war leer, schon viel zu lange. Wie schon so oft zuvor, betrachtete er das rote Muster auf dem ansonsten grauen Stoffbezug, fuhr mit seinem Blick jede Kante und jede Unregelmäßigkeiten nach. Die Decke, die über der Lehne hing, war großflächig kariert. Die Falten erzählten ihre eigene Geschichte, doch Sherlock kannte sie bereits. Seine Hoffnung schwand, dass sie sich so schnell ändern würde. Niemand würde in nächster Zeit in dem Sessel sitzen.
Außerhalb des Fensters begann reges Treiben. Es musste wohl doch schon viel später sein, als er gedacht hatte. Viel zu lange war er mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen.
Sein Blick wanderte über die Menschen, die ihren hektischen Alltag begannen. Einige liefen unten auf dem Gehweg entlang, manche im Anzug und mit Aktentasche, andere mit zerzausten Haaren, an den Händen Kinder, die Rucksäcke trugen.Im gegenüberliegenden Haus stand ein Mann im offenen Fenster. Es sah so aus, als würde er rauchen und ebenfalls die Menschen unten beobachten, doch Sherlock hatte bemerkt, dass einige verstohlene Blicke immer wieder zu ihm herüber schweiften. Sein heller Kragen legte seinen ganzen Werdegang offen.
Ein Wort kam dem Detektiv in den Sinn: Sprachbarriere. Warum es gerade dieses Wort war, auf das er stieß, wenn er den Spion ansah, konnte er sich nicht erklären. Es war ein Wort aus seiner Vergangenheit, das wusste er. Ein weit entferntes Wort, auf dessen Suche er sich später in seinem Gedächtnispalast machen würde.
Er kannte nur zwei Menschen, die den beobachteten Beobachter angeheuert haben konnten und einer davon war tot.Vielleicht.
Doch er war unwichtig. Er war schon länger dort und würde nichts ausrichten können, falls es wirklich zu etwas Handlungswürdigem kommen sollte. Zu langsam, zu stupide.
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𝚂𝚃𝙰𝚈𝙸𝙽' 𝙰𝙻𝙸𝚅𝙴 | Sherlock-FF
FanficEin mysteriöser neuer Fall verschafft unserem Consulting Detective wieder etwas Beschäftigung. Rose Grayson wird vermisst und zieht eine Spur aus Moriartys grausamer Vergangenheit hinter sich her - Weit entfernt von Sherlocks Heimatstadt, die er bis...