Kapitel 115 - I promise

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Lilly

>>Was war das erste, was du gedacht hast, nachdem du seinen Brief gelesen hast?<<
fragte Doktor Andrews neugierig. Er nach einer Woche konnte ich es fertig bringen in der Therapie über den Brief zu sprechen. Bis dahin hatte ich die letzten Tage kaum geredet. Mein Kopf war einfach leer.
>>Was?<< kam es verwirrt über meine Lippen.
>>Gut, ich frage anders. Was hast du danach gefühlt?<<
Abwesend glitt mein Blick an ihr vorbei. Vorsichtig holte ich Luft.
>>Ich hatte Schmerzen in der Brust. Alles tat mir weh und es fühlte sich an...<<
Schwer schluckte ich, versuchte dieses Gefühl runterzuschlucken.
>>...als ob ich zerbreche.<<
>>Und was hast du danach gemacht?<<
>>Ähm, ich bin zu Harvey gegangen und er war für mich da<<
Doktor Andrews lächelte.
>>Du machst Fortschritte<<
Ungläubig starrte ich sie an. Wo mache ich denn bitte Fortschritte?
>> Anstatt dich selbst zu verletzen, hast du deiner Trauer freien Lauf gelassen und du hast dir von einem Freund helfen lassen. Noch vor ein paar Wochen wäre das nie eine Option für dich gewesen. Du machst das alles sehr gut, auch wenn es schwierig ist. Ich weiß das<<

So sah sie das also. Ja, das machte Sinn. Trotzdem fühlte es sich komisch an.

>>Und wie geht es dir mittlerweile?<<
Unsicher sah ich hin und her.
>>Ich weiß nicht. Irgendwie hab ich keine Ahnung<<
>>Hm<< machte sie und nickte.
Sie machte sich eine kurze Notiz und sah mich dann wieder an.
>>Dein Essverhalten hat sich stetig verbessert. Du kannst sehr stolz auf dich sein<<
Mit gemischten Gefühlen verzog ich den Mund. Ja, es war gut, dass ich zunahm und Essen immer weniger ein Problem für mich wurde. Nur musste ich mich noch mit Ana und Mia streiten, ob es mir damit wirklich gut ging.
Doktor Andrews sah sich ihre Unterlagen an und legte ihre Stirn in Falten. Lange sah sie mich an, sie war nachdenklich.
>>In den nächsten Tagen werde ich ein paar Fragen mit dir durchgehen und ich möchte, dass du sie ehrlich beantwortest, egal wie komisch du sie findest<<
setzte sie an.
Ich nickte und war verwirrter als vorher. Was war denn jetzt los?
>>Ich habe da nämlich so eine Ahnung, was deine Diagnose angeht. Allerdings muss ich das etwas nachprüfen<<
>>Okay?<<
sagte ich nur und faltete meine Hände im Schoß. Harvey und Chrissy hatten bereits ihre Diagnosen als ich hier eingeliefert worden bin. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was mit mir war und ich brannte darauf, es endlich zu erfahren. Auch wenn es sich bis jetzt nicht so super anhörte. Aber was hörte sich schon gut an, wenn es um psychische Probleme ging?

>>Es war ganz komisch. Sie hat mich so super strange angeguckt<< nuschelte ich wenig später an Harveys Brust. Er lachte leise und streichelte weiter über mein Haar. Ich lag schon seit einer Ewigkeit so an ihn angekuschelt in seinem Bett. Wir warteten darauf, dass Chrissy von ihrer Therapie zurück kam. Nach draußen konnten wir heute leider eh nicht. Es hatte sich abgekühlt und regnete seit heute morgen. Erst nächste Woche sollte es etwas wärmer werden. Ich hoffte, dass sich meine Stimmung ebenfalls nächste Woche bessern würde.
>>Ich hab 2 Kilo zugenommen...<< sagte Harvey plötzlich und ich konnte hören, welch Überwindung das für ihn war. Auch der selbstbewusste, wunderschöne Harvey war verletzlich.
>>Das ist so schön<<
flüsterte ich und drückte mich kurz an ihn, um es ihm nochmal zu bestätigen.
Er drückte mir einen Kuss aufs Haar und ich konnte spüren, dass er lächelte.
>>Wir werden das zusammen schaffen, versprochen<<
kam es leise über seine Lippen. Kurz schloss ich die Augen. Wir hatten so einen langen, fast aussichtslosen Weg hinter uns. Und trotzdem schaffte er es mir immer wieder Mut zu machen. Er gab nie auf. Also würde ich es auch nicht. Leise schwang die Tür auf und wieder zu und Chrissy kuschelte sich an Harveys andere Seite.
>>Ach Leute. Man ist das alles anstrengend <<
meckerte sie und starrte ausdruckslos vor sich hin. Ich drückte ihre Hand und sie schüttelte leicht den Kopf. Nein, sie wollte heute nicht von ihrer Therapie erzählen.
>>Heute Abend gibt's Schokopudding<< verkündete Harvey durch die Stille und Chrissy jubelte leise. Auch ich freute mich wirklich darauf. Es war schön wieder einigermaßen essen zu können. Auch vom Schlauch war nicht mehr die Rede gewesen.
>>Manchmal ist das Leben hier leichter<< sagte Harvey dann nachdenklich und malte kleine Kreise auf meine Schulter.
Wir alle grübelten, dachten über unser Leben nach und lagen noch lange so aneinander gekuschelt auf dem Bett. Bis Chrissy leise anfing zu weinen und ihr Gesicht in Harveys Shirt vergrub.
>>Hey, shhhh<<
flüsterte er und zog sie mehr zu sich heran.
>>Ist okay<<
sagte ich und hielt ihre Hand.
Irgendwann war Harvey gegangen, um für uns allen Tee zu holen und Chrissy hatte ihren Kopf in meinen Schoß gelegt. Ich tätschelte ihre Haare und lächelte als Harvey mit einer großen Kanne und Tassen herein kam. Gemächlich tranken wir aus unseren Bechern, während Chrissy von ihrem Zuhause erzählte. Sie wohnte nur eine Stunde von mir entfernt, doch eher ländlich auf einer Farm mit ihren Eltern und zwei kleinen Schwestern. Es hörte sich schön an und es tat ihr gut davon zu erzählen.
>>Bald kannst du wieder nach dahin zurück<<
bestimmte Harvey und nickte mit dem Kopf. Dankbar sah sie ihn an. 
>>Mein Dad ist Anwalt und meine Mum arbeitet bei der Bank. Man könnte sagen, dass wir ziemlich reich sind und eigentlich bin ich auch recht beliebt, aber ich glaube genau da liegt das Problem<<
erzählte dann Harvey nach einer Weile.
>>Da ist einfach so viel Druck von allen Seiten, dass ich das Gefühl hatte zerquetscht zu werden und da hat meine Psyche einfach verrückt gespielt<<

Chrissy und ich nickten wissend. Wir drei waren alle so verschieden, was unsere Leben anging und trotzdem fühlten wir uns manchmal näher als anderen. 

>>In zwei Jahren soll ich die Kanzlei von meinem Vater übernehmen, aber das möchte ich gar nicht. Und deshalb ist es einfach nur noch angespannt bei uns zuhause, eben weil ich auch ihr einziges Kind bin<< 
Sein Mundwinkel zuckte und er lachte kurz.
>>Eigentlich will ich Stylist werden, ich hatte sogar schon einen Ausbildungsplatz, den ich aber abgeben musste. weil meine Eltern das eben nicht wollten. Und das ich schwul bin macht meinen Vater natürlich richtig fertig. Er hat mich verprügelt als er mich das erste Mal mit einem Typen erwischt hat<<
Mitleidig sah ich ihn an. Er musste so viel auf seinen Schultern tragen. Gegen seine Probleme waren meine ja gar nichts und fast fühlte ich mich schlecht. 
>>Ich komme aus New York, ist ja klar dass ich irgendwie einen Dachschaden habe. Aber ironischerweise fühle ich mich hier in der Klinik normaler als je zuvor<<
Ja, ich wusste genau was er meinte. So ging es mir die meiste Zeit auch. Ich meine hier in der Klinik hatte ich in den vergangenen Wochen mehr schöne Momente, wie in dem ganzen Jahr zuhause. Chrissy stützte sich auf ihre Knie und hob ihre Tasse an.
>>Auf unsere Dachschäden und darauf, dass alles gut wird<< sagte sie feierlich und lachend stießen wir zusammen an. 
>>Ich hab so Angst nach Hause zu gehen<< kam es aus mir heraus und ich starrte auf den Teppich.
>>Ich hab Angst vor der Schule, ich hab Angst wie sich meine Eltern verhalten werden und ich hab so eine Angst Caleb wieder zu sehen<<
>>Ist Caleb nicht dein Freund?<< fragte Chrissy ganz interessiert, woraufhin Harvey ihr nur einen scharfen Blick zuwarf. 
>>Ich glaub ich hab zu Hause einfach alles kaputt gemacht. Da ist nichts mehr, wohin ich zurück kehren könnte<<
Chrissy sah mich lange an und sprang dann auf und rannte raus. Verwirrt sahen Harvey und ich uns an. Wenig später kam sie zurück und legte mir mein Tagebuch in die Hände.
>>Du wirst jetzt in dein Zimmer gehen und alles aufschreiben, alles was dir Sorgen bereitet. Dann fühlt sich dein Herz gleich viel leichter an<< sagte sie einfühlsam und zog mich auf die Beine.
Erst war ich skeptisch, doch ich hatte seit dem Brief von Caleb kein Tagebuch geschrieben und ich merkte sofort, dass sich mein Kopf viel zu voll und ich mich schlechter fühlte. 
>>Na gut<< antwortete ich und lächelte die beiden dankbar an, bevor ich mich in mein Zimmer verkrümelte.

Please no promises - und alles wurde fakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt