Ich hielt einen Moment inne, um herauszufinden, wie ich mich nach Mellys Tod fühlte. Doch ich fühlte nichts, keine Trauer, keine Wut, einfach nichts. Alles zog an mir vorbei, aufstehen, sich fertig machen, etwas essen und dann los reiten. Eine allumfassend Leere hatte sich in meinem Körper ausgebreitet, nachdem mich meine beste Freundin gestern Abend für immer alleine gelassen hatte.
Morticias versuchte ein Gespräch mit mir zu beginnen, doch ich schwieg. Es fühlte sich an, als ob meine Stimmbänder einfach weg wären. Ich konnte nichts sagen, egal wie sehr ich mich auch anstrengte.Der Tag zog an mir vorbei und die Leere in meinem Körper machte mich willenlos. Es war mir nun gleichgültig, ob ich lebte und starb, ob Viridi gerettet wurde oder nicht. Melly würde nicht da sein um mir beizustehen oder um mit mir unseren Sieg zu feiern. In Melly hatte ich das erste Mal in meinem Leben eine richtige Freundin gefunden. Wenn wir länger zusammengeblieben wären, hätte ich sie sicherlich auch bald als Schwester angesehen. Als ich daran dachte, schmerzte mein Herz, die einzige Gefühlsregung seit Stunden.
Doch dieser Moment war nur von kurzer Dauer, dann war sie wieder da, die willenlose Leere.Als ich das erste Mal wieder etwas am Rande registriert, saß ich am Eingang unseres Zeltes. Matrep war neben mich getreten und ließ sich neben mir auf der Erde wieder. „Du darfst jetzt nichts aufgeben Aiana", erklärte er mir, „du musst stark sein, für Melly. Weißt du, ich fühle mich genauso schrecklich wie du. Ich habe Melly schon eine kleine Ewigkeit gekannt und sie war für mich die Schwester, die ich nie hatte. Du musst aus dem Loch zurückkommen und für sie Colum besiegen."
Ich schüttelte den Kopf, es war mir egal, ob ich Colum besiegte oder nicht, mir war alles egal.
Mir war nicht klar, wie viel Zeit vergangen war, obwohl es mir eigentlich auch egal war, als ein Blatt Papier und ein Stift vor mir auftauchten. Ich blickte hoch und sah Morticia, die vor mir stand. „Wenn du nicht mit uns reden willst, dann schreib alles auf. Das wird helfen. Schreib an Ragna, sie ist dir eine gute Freundin, auch wenn du das vielleicht noch nicht weißt", sprach sie mit mir und ging dann zurück in das Zelt.Nach und nach drangen Morticias Worte zu mir durch, doch bis ich sie begriff, dauerte es. Aber als ich das tat, entkam ich der Leere zumindest für einen Moment. Ich nahm den Stift in die Hand, überlegte kurz und schrieb dann an Ragna.
Liebe Ragna!
Morticia hat mir geraten, Dir zu schreiben, weil sie denkt, dass du mir eine gute Freundin bist. Sie hat gesagt ich soll Dir von allem erzählen und du würdest es verstehen.
Melly ist gestern Abend von uns gegangen, sie ist an einer Blutvergiftung gestorben, weil ich zu feige war, mein Schwert gegen einen Adler zu erheben. Ich bin schuld an ihrem Tod und das werde ich mir niemals verzeihen. Seit ihrem Tod gestern Abend war in einer willenlosen Leere gefangen. Diesen Brief zu schreiben, ist das erste, was ich heute bewusst tue. Nein falsch, ich musst hin und wieder an ihre letzten Wort zu mir denken:
Wir werden uns Wiedersehen, versprochen. Denk dran, der Himmel sagt immer die Wahrheit. Ich habe dich lieb kleine Schwester.
Ich vermisse sie so sehr.
Jetzt habe ich mir alles von der Seele geschrieben. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder.
In liebe deine Aiana.
Ich faltete den Zettel zu einem Papierflieger und warf in die Luft. Tief in meinem inneren wusste ich, dass er ankomme würde.
Und dann übernahm die Leere wieder meinen Körper und erfüllte meinen Geist.Das erste was ich spürte als ich erwachte, war ein dröhnender Schmerz in meinem Kopf. Warum schwankte alles so?
Ich legte den Kopf und erblickte eine Gestalt über mir. Nach einigen Sekunden erkannte ich Morticia. „Schön, dass du wieder unter den wachen verweilst", begrüßte sie mich sarkastisch. Auf einmal hörte das schwanken auf. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich vor Morticia im Sattel von Nyx saß. „Was ist passiert?", wollte ich wissen und ließ mich langsam vom Sattel hinuntergleiten. „Matrep hat dich niedergeschlagen und ist abgehauen. Der Feigling ist wohl nach Mellys Tod der Meinung, dass wir Colum nicht schlagen können und wechselt jetzt die Seite", knurrte meine Begleiterin.Melly war tot, die Erinnerung traf mich wie einen Schlag in den Magen und ich schloss kurz die Augen, um mich zu sammeln. Doch es half nichts, ihr Gesicht erschien mir immer wieder vor meinem inneren Auge.
„Meinst du kannst reiten, wenn auch langsam? Dann würden wir zumindest noch ein bisschen Strecke schaffen. Immerhin ist heute schon Mittwoch. Wir müssen den restlichen Weg bis zu Colums Festungen in vier Tagen schaffen", erläuterte sie. „Ja, geht schon", beteuerte ich und schwang mich in Rickys Sattel. Im Schritt ritten wir los. „Hast du gestern Abend eigentlich noch an Ragna geschrieben?", erkundigte sich ihre Stellvertreterin und sah mich von der Seite her fragend an. „Ja", gab ich ihr eine einsilbige Antwort.
Mein Kopf dröhnte und jeden Schritt den Ricky tat, ließ es etwa schlimmer werden. Morticia stellte mir noch ein, zwei Fragen, wie es mir nach Melly Tod den jetzt ging, merkte aber schnell, dass ich nicht darüber reden wollte und gab auf.Unter keinen Umständen dieser Welt wollte ich an Mellys Tod erinnert werden. Ich kam einfach nicht damit zu recht, dass ich sie für immer verloren hatte, obwohl ich sie erst so kurz gekannt hatte.
Was, wenn nicht Melly, sondern mein Vater gestorben wäre? Was würde ich dann machen? Immerhin war mein Vater mein Vater. Wäre ich dann zu nichts mehr fähig sein? Würde mich die Trauer von innen heraus so zerfressen, dass ich an nicht mehr anderes denken konnte?
Ich wusste es nicht und wollte auch nicht weiter darüber nachdenken.Mein Gedankenstrom endete jäh, als Ricky stolperte und mein Kopf nach vorne geschleudert wurde. Ein Schmerzenslaut entfuhr mir, mein Kopf tat schlimmer weh, als je zu vor. „Steig ab, wir reiten heute nicht weiter, so hat das keinen Sinn", befahl Morticia. Ich nickte dankbar und stieg ab. Ich legte mich ins Zelt, was meine Begleiterin in Sekundenschnelle aufgebaut hatte, während diese die Pferde versorgte. „Ruh dich aus, ich werde in der Zeit etwas zu essen besorgen", meinte Morticia und lächelte mich warm an. Kurz bevor ich in das Land der Träume abdriftete, kam mir der Gedanke, dass Morticia vielleicht doch nicht so übel war.
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Green ~ Eine verborgene Welt
FantasyEin einfacher Baum, jenes Tor zu einer atemberaubenden Welt. Doch der Schein trügt, auch hier gibt es Probleme. Der Gott des Himmels will die Herrschaft über Viridi und über die Menschenwelt an sich reißen. Aiana, die durch Zufall in dieser Welt...