1|| WIE TOT NOCH TOTER WIRD

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Amanda

Ihr Schwanz klopft in einem ungleichmäßigen Takt gegen meine Fensterscheibe.
Auf, ab ... auf, ab, auf, ab ...
Ich warte nur auf den Moment, in dem es knirscht und sie die dünne Fensterscheibe zertrümmert.
Ich warte auf den Moment, in dem sich kleine Risse auf dem quadratischen Spiegel bilden und ich mich schneide, weil ich sie verscheuche und fassungslos meinen Finger über die Risse in der Scheibe fahre.
Ich warte auf den Moment, in dem ich vielleicht alles noch viel schlimmer mache,
in dem das hauchdünne Glas  unter einer bloßen Berührung zerbricht und ich den Scherben nachsehe, die die Hauswand hinuntersegeln, über das Vordach der Veranda rutschen und schließlich auf den Fliesen in tausend Teile zerspringen.
Ich warte auf den Zeitpunkt, in dem ich die Luft anhalte und darauf warte, dass etwas passiert.

Aber es passiert nichts mehr.
Weil ja längst etwas passiert ist.

Unumkehrbar.
Unwiderruflich.
Vom Schicksal angerührt und mittendrin verloren.

Nach dem Moment vergehen Minuten, in denen nichts passiert und schließlich ringe ich wieder mit der Luft, atme aus und hebe meinen Blick von den Scherben draußen am Boden, fahre mit meinen Augen hinauf und bemerke gar nicht, dass mir der Mund offen steht.

Ich werde noch lange auf diesen Moment warten.

Gras, etwa ein Meter Rasen, dann der Zaun, etwa siebzig Zentimeter hoch, dann ein Haufen voller Blumen, die das ganze Jahr blühen und zuletzt die Fassade des weißen Holzhauses auf das ich schon starre, seit ich denken kann.

Vier Fenster auf der Westseite. Ein Blick um die Ecke, die Küche. Ein Blick ins Esszimmer, Erdgeschoss. Zwei Meter höher eine Sicht auf schwarze Gardinen, die mir dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr verbieten zu sehen, was sie bergen. Sie machen mich bei meiner Aussicht am neugierigsten.
Sie und Fenster Nummer Vier.
Kreisrund und verglast mit bunten Scheiben, die im Sonnenlicht einen Regenbogen werfen. Im
Spitzdach ist Nummer Vier eingelassen und ich muss meinen Kopf fünf Millimeter höher heben, als ich es gewöhnlich tue, um es genau ansehen zu können.
Vier Fenster, sechsundvierzig Glasscheiben und ein Jahr Zeit, mir jedes Detail der Westfassade des Nachbarhauses einzuprägen.

Ich kenne Miss Stevens Haus in- und auswendig. Jeden Morgen wache ich auf, schiebe meine Gardinen zur Seite und blicke an ihrem Haus hinauf, zu dem Fenster mit den vielen Scheiben aus buntem Glas. Jeden Tag ändert sich nichts an meiner Aussicht. Nur der Garten, ja, der Garten, der wird jede Woche schöner. Wie auch immer das möglich ist.

Mein Kopf dreht sich wie mechanisch zurück zu dem Blatt Papier auf meinem Schreibtisch und mit zusammengekniffenen Augen versuche ich meine Hirngespinste von zerbrochenem Glas zu vergessen und mich wieder dem Aufsatz zu widmen, den ich in zwei Wochen abzugeben habe.
Die Aufgabenstellung ist simpel:

»Schreibe einen Aufsatz über ein Thema deiner Wahl«

Das heißt, nein, sie klingt simpel, aber das ist sie nicht.
Worüber könnte man schreiben, wenn es so viel gibt, was man dabei falsch machen kann?
Ich könnte über Glasscheiben schreiben.
Mein Blick fliegt zurück zum Urheber dieses Gedankens.

Unverändert hockt sie auf der Fensterbank und haart mir das Kissen zu, auf dem sie so gut wie jeden Nachmittag liegt. Sie starrt mich mörderisch an. Als sei ich das Langweiligste, das sie je gesehen hat. Ihre Lider senken und heben sich in Zeitlupe und als unsere Augen sich begegnen, bin ich sicher, dass sie in den nächsten zehn Minuten eingeschlafen ist, wenn ich sie weiter so ansehe.

SHOULDER TO SHOULDERWo Geschichten leben. Entdecke jetzt