Sechs

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Es war angenehm kühl hinter den dicken Steinwänden der Kapelle, als Allie in der hintersten Bank saß und hinauf an die Decke starrte.

Exitus acta probat.

Der Kirchenspruch prangte dort, wo er immer hing, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Jo war mit ihr hier gewesen, am Tag vor ihrem ersten Arrest. Schon damals war er ihr unpassend für eine Kirche vorgekommen.

Es kam Allie so unwirklich vor.

Wehmütig erinnerte sie sich an die erste und einzige Schachlektion ihrer besten Freundin zurück. Wann du mich schlagen kannst? Mit viel Übung wenn du zwanzig bist. Allie lachte leise; und brach dann in Tränen aus.

"Ich hatte doch nicht einmal die Möglichkeit, es zu versuchen, Jo.", murmelte sie in die kühle Stille. Nein, sie hatte die Möglichkeit nie gehabt, wegen Nathaniel. Er hatte Gabe in Cimmeria eingeschleust, oder den Schüler umgedreht, und deswegen war Jo am Ende jämmerlich im Schnee ermordet worden. Niedergestochen.

Nathaniel verdiente nichts als elendig zu verrotten, in welcher Ritze er sich im Moment auch immer verbarg.

Exitus acta probat. Der Zweck heiligt die Mittel. Wieder drängte sich der Satz in Allies Gedanken. Was sollte das bedeuten? Sie atmete tief durch und zog die Knie an. Langsam wurde es Herbst, der Spätsommer kündigte sich am Ende des Sommertrimesters an, anders als in Allies erstem Trimester an der Cimmeria Academy. Sie erinnerte sich an die letzten Wochen ihres ersten Sommers nur ungern, aber wenn sie darüber nachdachte war das die Zeit gewesen, in der sich alles verändert hatte, der Wendepunkt an dem Allie sich von ihrem Zorn gelöst und ihn in die Wut verwandelt hatte, die sie weiterbrachte.  

Und jetzt brodelte diese Wut wieder in ihr, nachdem sie für ein Jahr fast verloschen war. Nein, bemerkte Allie, sie war verschüttet worden.

Nichts hätte sie aufhalten sollen, nachdem sie Cimmeria gerettet hatten. Ihr Leben war endlich gut gewesen, aber das hielt wohl nie lange in ihrer sonderbaren Familie. Ihr Blick schweifte an die Stelle, an der vor einem Jahr Lucindas Sarg gestanden hatte. Ein Schauer rann ihr den Rücken hinunter. Auch so eine Erinnerung, die sie am liebsten in die hinterste Ecke ihres Gedächtnis verschieben wollte. Um nichts in der Welt wollte Allie sie vergessen, dafür war ihr diese seltene Begegnung mit ihrer Großmutter zu kostbar.

Sie saß ewig in der Kapelle, als sich die Tür öffnete und Allie sich mühsam umwandte. Sie hatte nicht das Verlangen jemanden zu sehen, und doch war sie überrascht, wer dort stand und auf sie zu kam.

"Du solltest dir nochmal durch den Kopf gehen lassen, was du tun willst.", sagte Katie. Sie setzte sich neben Allie, die zur Seite rutschte und die Christus Figur ihr gegenüber ansah.

"Und was dann? Ich werde Nathaniel anhören und er wird mich betrügen, das wird immer so sein."

Katie seufzte und lehnte sich zurück. "Erinnerst du dich noch daran, wie ich dir von Nathaniels Seltsamkeiten erzählt habe?"

Allie nickte.

"Nun ja, er mag verrückt sein, aber Zoe hat Recht. Er ist berechenbar. Und er bewundert dich, auch wenn er dich hasst. Und er fürchtet dich.", erklärt Katie ruhig. Sie legte die Sachlichkeit an den Tag, die Allie ihr zu Beginn ihrer Bekanntschaft nie zugetraut hatte.

"Du bist jetzt zwar erwachsener und reifer und auch weiser, als du es früher gewesen bist, aber du besitzt den Sinn für Beobachtung nicht, den wir besitzen." Katie beobachtete Allie, sah genau wann der Groschen fiel.

"Du meinst diese Hinterhältigkeit der reichen Oberschicht?", fragte Allie trocken.

Katie schnaubte kurz und grinste. "So kann man es auch nennen. Worauf ich hinaus will: Du wirst Nathaniel auch durchschauen können, noch nicht jetzt, aber später, wenn du ganz in dieser Welt angekommen bist, die Lucinda dir vererbt hat."

Night School - Du musst verzeihenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt