Kapitel 7 - Eine kurze Rast

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„Ihr hattet verdammtes Glück."

Die alte Frau winkelte das letzte Stück Verbandszeug um das Bein des Boten. Der Mann hatte schlimme Schnittverletzungen und sein rechtes Bein war gebrochen. Die Frau verknotete die Leinenstreifen und sah Mirza und Lex an. „Heute Abend wäre er ohne Behandlung wohl an seinem Blutverlust gestorben."

Mirza nickte müde und sah auf den Schlafenden. All ihre Glieder taten ihr weh. Durch den Regen waren ihre Kleider schwer und hingen wie Gewichte an ihr. Zusammen hatten Mirza und Lex den verletzten Mensch auf dessen Pferd gelegt und waren so schnell wie möglich ins Dorf geritten. Dort hatte man sich sogleich seiner angenommen.

Die Kräuterfrau entzündete ein Duftöl und schob die beiden aus dem kleinen Raum. „Er hatte Glück, das Ihr eine Undine seid", sagte sie und schloss die Tür hinter sich.

„Ja, allein der kurze Ritt hat ihm nicht gut getan." Mirza ließ sich auf einen Stuhl sinken und rieb sich übers Gesicht.

Lex blieb stehen und sah die alte Frau an. „Ich danke Euch vielmals, dass Ihr ihn versorgt habt."

Die Frau winkte ab. „Das ist meine Bestimmung. Aber nun solltet Ihr an euch denken."

Lex nickte und sah auf Mirza hinunter. Sie hatte Ringe unter den Augen und ihre Haut war fahl. Die Heilerin folgte seinem Blick und ging an den Herd.

„Ich kann euch leider nur den Heuboden anbieten. Das einzige Gästebett wird von eurem Gefährten belagert."

„Das macht nichts. Auch dafür sind wir Ihnen dankbar", sagte Mirza. Das Dorf war so winzig, dass es keinen Gasthof hatte. Aber selbst der blanke Fußboden sah für Mirza verlockend aus.

Die Alte fachte das Feuer an, ehe sie den Tisch deckte. „Setzt euch. Der Eintopf ist gleich warm. Er wird euch neue Kraft spenden."

„Vielen Dank", sagte Lex und setzte sich neben Mirza.

Das Heu raschelte, als Mirza sich hinein sinken ließ. Sie hatten von der Heilerin einige Decken bekommen und waren auf den kleinen Dachboden ihrer Hütte gestiegen. Außerdem hatte ihnen die Frau einige frische Kleider in die Hände gedrückt. Durch den Regenguss waren nicht nur die Kleider an ihren Leibern nass, sondern auch all ihre anderen Sachen vollkommen durchweicht.

Mirza hätte beinah gelacht, als sie Lex in dem geliehenen Hemd und der Hose gesehen hatte. Die Stücke waren eindeutig für einen Mann mit mehr Umfang geschneidert worden. Sie war nur froh, dass sie keinen Spiegel hatte. Sicherlich sah sie in dem unförmigen Unterkleid auch nicht besser aus.

Nun fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare, um sie anschließend neu zu flechten. Es war dunkel auf dem Dachboden – eine Kerze war bei dem vielen trockenen Gras nicht ratsam. Auch wenn Lex das Feuer kontrollieren konnte, war es der Frau zu gefährlich gewesen. Man wusste ja nie.

So saßen beide im Dunkeln da und hörten, wie der Regen wieder einsetzte. Bei dem vertrauten Geräusch brach etwas in Mirza zusammen. Ohne Vorwarnung löste sich ein leises Schluchzen aus ihrer Kehle. Der hysterische Drang zu Schreien breitete sich in ihr aus. Sie presste sich eine Hand auf den Mund, damit Lex sie nicht hörte.

Ich bin eine Mörderin, dachte sie bitter. Den Kopf auf ihre Knie gebettet saß sie da und bemühte sich, wieder ruhig zu atmen.

Doch kaum einen Augenblick später hörte sie das Rascheln von Stroh neben sich.

„Mirza, geht es dir nicht gut?" Lex' Stimme drang leise durch die Finsternis.

Mirza holte zitternd Luft und krächzte: „Nein, alles in Ordnung."

„Du lügst." Wieder knisterte das Heu. Kurz darauf fühlte Mirza eine warme Hand, die sie am Arm berührte.

Diese kleine Geste ließ Mirza den Kampf gegen die Tränen und das Schluchzen verlieren. Unkontrolliert begann sie zu weinen.

„Oje", sagte Lex und zog sie vorsichtig zu sich. Wie ein Kind bettete er ihren Kopf an seine Brust und wiegte sie sanft hin und her. „Sch sch... Weine nicht Mirza."

Unbewusst benutzte er dieselben Worte, wie Samara in Mirzas Traum. Zu den Tränen gesellte sich heftiges Zittern und schüttelte Mirzas Körper.

„Ich bin eine grausame Frau", murmelte Mirza und barg ihr Gesicht an Lex' Brust.

„Warum denn?"

„Weil... Ich habe diese Männer getötet. Ich habe meine Gabe missbraucht." Beruhigend strich Lex ihr über den Rücken. Er konnte die heißen Tränen fühlen, die sein Hemd aufsog.

„Mirza, du hast uns vor Schlimmeren bewahrt. Das ist nichts Schlechtes."

„Ja, aber es wäre auch anders gegangen."

„Sicher? Wenn du sie nicht getötet hättest, hätten sie dasselbe mit uns getan." Mirza schluckte hart an dem Klumpen in ihrer Kehle vorbei.

„Ich weiß", flüsterte sie und atmete tief durch. Es half etwas, dennoch konnte sie sich nicht vollkommen beruhigen.

„Im Grunde ist es peinlich", sagte Lex und Mirza konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

„Was?"

Lex legte Mirza eine Hand in den Nacken und begann sanft, die verspannten Muskeln zu massieren. „Eigentlich sollte ich derjenige sein, der dich rettet. Du weißt schon, Held in strahlender Rüstung rettet holde Maid in Not."

„Aha", meinte Mirza und schloss die Augen. Nicht nur ihre Hände schienen Heilkräfte zu haben. Als würde er mit jeder Bewegung ihren Schmerz wegreiben.

Lex seufzte. „Aber stattdessen hast du mich gerettet – schon zum zweiten Mal. Wenn mein Onkel das erfährt, lacht er mich für den Rest meines Lebens aus."

„Keine Sorge. Wenn es sein muss kann ich schweigen wie ein Grab."

„Das hoffe ich", sagte Lex und löste seine Hand von Mirzas Nacken. „Wir sollten jetzt besser schlafen."

Vorsichtig nahm Lex seine Arme von Mirza und kroch zu seinem Lager. Mirza wurde schlagartig kalt und sie wickelte sich schnell in eine der Decken.

„Gute Nacht Mirza."

„Gute Nacht Lex", murmelte sie und kuschelte sich ins Heu. Obwohl es sehr gemütlich war, konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass es einige Meter weiter sicher bequemer wäre.

Mirza - Die Nymphen von Mirus (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt