Kapitel 12 - Der große Tag

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Mirza hob ihre Röcke und stieg in die Kutsche. Das kleine Gefährt bot gerade so viel Platz, dass sie zusammen mit der Zofe einsteigen konnte. Tilia hatte viel Taktgefühl bewiesen, als sie am Morgen nichts zu Mirzas rotgeränderten Augen gesagt hatte. Stattdessen hatte sie mit ihr über Belanglosigkeiten geplaudert und so versucht, Mirzas Stimmung zu heben.

Gelungen war ihr das zwar nicht, dafür hatte sie es vollbracht, dass Mirza nicht so aussah wie sie sich fühlte. Statt wie ein Häuflein Elend wirkte Mirza frisch und lebendig. Dafür war Mirza ihr genauso dankbar wie für die Nachricht, dass Luten und Lex das Haus schon früh am Morgen verlassen hatten.

Mittlerweile war es Nachmittag und Mirza war auf dem Weg zum Palast. Die Zeremonie sollte in dem großen Ballsaal des Königshauses stattfinden. Mirza sah aus dem kleinen Fenster und bemerkte nicht die Schönheit der Stadt. Was ihr noch gestern wie eine Märchenstadt vorgekommen war, verblasste zu einer unbedeutenden Ansammlung von Steinen.

Großtante Yarri hatte Recht, dachte sie. Ohne das Licht der Liebe ist die Welt grau und ohne Schönheit.

Mirza und unterdrückte ein Seufzen. Sie kam sich albern und kindisch vor. Wie konnte sie jemandem nachtrauern, den sie eigentlich kaum kannte? Wie konnte sie Liebeskummer empfinden, wenn sie die Liebe nicht wirklich kannte? Wie konnte sie Verlust empfinden für etwas, das sie nie besessen hatte?

„Ich bin so aufgeregt Miss Mirza. Ich war noch nie im Palast." Ruhelos rutschte Tilia auf der schmalen Bank hin und her. Mirza lächelte schwach.

„Ich habe außer meiner Heimatstadt noch nicht viel gesehen."

„Meint Ihr, dass die Böden wirklich so glatt sind, dass man sich darin spiegeln kann? Der Herr Luten deutete einmal so etwas an."

Mirza zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich bin nur froh, wenn ich dort in einem Stück wieder herauskomme."

Das Lächeln verrutschte auf Tilias Gesicht und sie räusperte sich verlegen. „Tut mir leid. Ist es denn sehr schlimm für Euch?"

Erschöpft nickte Mirza. Sie zupfte ein imaginäres Staubkorn von ihrem moosgrünen Kleid. „Ja. Bitte, lass uns nicht weiter davon sprechen. Dadurch wird es auch nicht leichter." Mirza lächelte schief und Tilia nickte.

„Wie Ihr wollt." Und dann wechselte sie wieder so gekonnt das Thema, als hätte sie jeden Tag mit Frauen zu tun, die ihre Lebensfreude verloren hatten.

„Aus diesen Gründen wird die Wassernymphe Mirza aus Vekon von Phönix ausgeschlossen. Sie darf zu ihrer Familie zurückkehren und wird nicht länger von uns für das Projekt beansprucht."

Mirza traute ihren Ohren nicht. Aufgeregtes Murmeln ging durch die versammelten Nymphen und alle sahen sie verstohlen an.

Der Ballsaal wirkte wie eine perfekte Komposition aus weißem Marmor, goldenen Verzierungen und edlen Gemälden. Es befanden sich nicht nur alle Ratsmitglieder im Saal, sondern auch der König. Imposant und wahrhaft königlich saß er auf einem reichverzierten Thron und wohnte der Zeremonie bei. Es waren so viele junge Nymphen aller Arten im Raum, dass sich nun über einhundert hellgrüne, aquamarinblaue, erdbraune und goldgelbe Augenpaare auf Mirza richteten.

Dieser schwanden beinah die Sinne. Ungläubig starrte sie Luten an und konnte das Gehörte nicht wirklich glauben. Die Feierlichkeit hatte gerade begonnen und es hätten eigentlich die ersten Paare ausgerufen werden sollen. Mirza war schlecht geworden, als sie nach vorn gebeten worden war. Doch statt einem Ehemann hatte sie ihre Freiheit erhalten.

Mirzas Blick wurde zu einem goldenen Augenpaar gezogen, das ihr von einer kleinen Gruppe Nymphen zu ihrer Rechten entgegenblickte. Lex' intensiver Blick jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Irritiert hob sie eine Augenbraue und fragte stumm, was das alles zu bedeuten hatte. Lex nickte nur mit dem Kopf in Richtung seines Onkels.

Dieser stand noch immer vor ihr und erwartete anscheinend eine Antwort. Mühsam riss sich Mirza zusammen und neigte den Kopf. „Ich danke dem Rat und füge mich seiner Entscheidung."

Luten nickte und entließ Mirza damit. Um sich nicht weiter in den Mittelpunkt zu drängen, machte Mirza kehrt und ging in Richtung Ausgang. Zwei Diener öffneten ihr die hohen Türen und sie verließ den Ballsaal.

Sobald sie den Vorraum erreicht hatte, kam ein anderer Diener auf sie zu. „Miss Mirza, das soll ich Ihnen geben", sprach er und überreichte Mirza eine kleine Papierrolle.

„Danke."

Der Diener nickte und verschwand. Verwundert sah Mirza ihm hinterher, ehe sie ihre Aufmerksamkeit dem Schriftstück widmete. Vorsichtig brach sie das Siegel und begann zu lesen:

Alle Worte der Welt können nicht beschreiben, wie leid es mir tut. Doch ich hoffe, dass Taten es können. Ich hoffe, dass du nun glücklich wirst.

Leb wohl kleine Wasserhexe.

Lexlon

PS: Ich wünsche dir eine ruhige Heimreise.

Mirza - Die Nymphen von Mirus (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt