Kapitel 9 - Die ersehnte Ankunft

360 40 1
                                    

Mirza träumte wieder.

In einem blütenweißen Kleid saß sie an dem kleinen Fluss, der hinter ihrem Haus in Vekon floss. Die Sonne schien ihr auf die Schultern und wärmte sie. Neben ihr saß ihre Großmutter Ayne und spielte mit den Fluten. Sie tauchte ihre Finger in das kühle Nass und ließ die Oberfläche komplizierte Muster bilden.

„Darum habe ich dich schon immer beneidet", gestand Mirza und lockte etwas Wasser aus dem Flussbett zu sich. Ihre Großmutter lächelte. Mirza war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Lediglich einige Falten mehr und graue Strähnen in den dunkelbraunen Locken unterschied ihre Ahnin von Mirza.

Mirza ließ das Wasser um ihr Handgelenk fließen. „Jeder hat andere Talente Mirza. Du bist die geborene Heilerin."

Mirza schüttelte betrübt den Kopf. „Nicht ganz. Du weißt..."

„Schau nicht so Kind", mahnte Ayne sie und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Du darfst nicht immer nur auf die Mängel schauen. Nicht auf die andere und auch nicht auf deine eigenen."

Mirza hob den Blick. „Aber wie? Ich habe so viele Fehler..."

Ihre Vorfahrin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Natürlich. Ohne Fehler wäre das Leben langweilig. Lausche einfach auf dein Herz."

„Das sagt sich so leicht. Warum könnt ihr mir in meinen Träumen nicht anständige Ratschläge geben? Welche, die ich gleich verstehe und nicht noch enträtseln muss."

Aynes aquamarinblaue Augen glitzerten belustigt. „Noch etwas, was das Leben interessanter macht. Weisheit kann man nicht erlernen, man muss sie erlangen." Mirza seufzte und ließ das Wasser wieder von ihrer Hand gleiten.

„Ich liebe dich Großmutter", sagte Mirza und wandte ihren Blick wieder der Frau zu. Ayne lächelte und ein goldener Schein ließ ihr Gesicht erstrahlen. Wie Lehm wurden ihre Gesichtszüge von unsichtbaren Händen verformt, bis sie denen eines Mannes glichen.

„Ich liebe dich auch", raunte Lex und küsste sie sanft auf die Lippen.

Durch kleine Bewegungen ihrer Finger erwärmte Mirza das Wasser in der irdenen Schüssel. Als sie aufgewacht war, hatte sie sich allein in dem Zimmer befunden. Die Decken und das Kissen, mit denen Lex geschlafen hatte, waren zu einem ordentlichen Stapel zusammengefaltet gewesen – von Lex keine Spur. Ohne Zeit zu verlieren hatte sich Mirza angezogen, sich die Haare gekämmt und ihre Habe zusammengepackt.

Notdürftig wusch sie sich mit dem warmen Wasser.

Ich mache drei Kreuze, wenn ich heute Abend endlich ein anständiges Bad bekomme, dachte sie und trocknete ihr Gesicht. Das Amulett mit den vier Edelsteinen streifte sie über, ehe sie das Zimmer verließ. Schon auf dem Gang konnte sie Lex' Stimme hören. Augenblicklich krampfte sich ihr Magen zusammen – oder ihr Herz. Wenn sie an den vorigen Abend dachte, hatte sie ein schlechtes Gewissen.

Es hat mir gefallen von ihm geküsst zu werden, dachte sie. Und genau da liegt das Problem. Es war vielleicht nicht höflich, aber richtig von ihr gewesen ihn zurückzuweisen. Lieber beendete sie es, bevor überhaupt irgendetwas beginnen konnte.

So mental gestärkt straffte Mirza die Schultern und ging die schmale Treppe hinunter. Es roch herrlich nach Brot, Eiern und frischer Milch, als sie die Schankstube betrat. Sie hatte richtig gehört: Lex saß mit der Wirtsfrau an einem Tisch und unterhielt sich mit ihr. Mirza konnte nicht verhindern, dass das widerliche kleine Geschöpf mit Namen Eifersucht den Kopf hob.

Still, wir haben kein Recht auf ihn, versuchte Mirza ihre Gefühle zu beruhigen. Mit gelassener Miene ging sie an den Tisch und lächelte freundlich.

Mirza - Die Nymphen von Mirus (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt