Fassungslos ließ Mirza das Papier sinken und starrte auf den weißen Marmor. Hatte sie richtig gelesen? Nochmals studierte sie die in geschwungener Schrift verfassten Zeilen. Nein, ihre Augen hatten ihr keinen Streich gespielt. Als sie den Blick wieder hob, stand ein in grobe Reitkleidung gehüllter Mann vor ihr.
„Sind Sie Miss Mirza?" Stumm nickte sie. „Dann bitte ich Sie mir zu folgen. Mister Lexlon wies mich an, Sie in Ihr Heimatdorf zu begleiten."
Nochmals nickte Mirza – ihrer Stimme traute sie nicht über den Weg. Apathisch folgte sie dem drahtigen Mann und verließ mit ihm den Palast.
Das geht alles zu schnell, geisterte es ihr durch den Kopf, als sie in eine schmucklose Kutsche stieg. Verwundert stellte sie fest, dass sich ihre gesamten Habseligkeiten schon in dem dunklen Verschlag befanden.
Er hat das geplant, dachte sie.
Plötzlich aufgeregt drehte sich Mirza um und sah den Mann an. „Hat Mister Lexlon das alles arrangiert?"
Der Mann nickte und sagte: „Ja Miss. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass Sie auf dem schnellsten Wege zurück nach Vekon gebracht werden. Und statt Pferden orderte er eine Kutsche."
„Oh", meinte Mirza und stieg in das kleine Gefährt.
Der Mann schloss die Tür und setzte sich auf den Kutschbock. Als die Pferde antrabten, klopfte Mirza gegen das Dach. Die Räder standen wieder still und der Kutscher rief: „Was ist Miss?"
„Könnten Sie vielleicht Mister Lexlon eine Nachricht zukommen lassen?" Die Kutsche wackelte, als der Mann wieder herunterstieg und an das kleine Fenster trat.
„Sicher."
Mirza nickte und suchte in ihrem Rucksack nach einem Kohlestift. Schnell drehte sie die Nachricht von Lex um und schrieb einige Zeilen. Gefaltet gab sie das Stück Papier dem Mann.
„Wartet kurz Miss, ich werde es schnell im Palast abgeben." Mirza nickte und sah ihm hinterher. Einer der vielen Diener des Königs nahm das Papier und verschwand.
„Noch etwas Miss Mirza?"
„Nein, vielen Dank."
Mirza lehnte sich zurück und strich über den edlen Stoff ihres Kleides. Zuhause würde sie es in der Truhe ihres Bettes aufbewahren. Vielleicht kam die passende Gelegenheit, es wieder hervor zu holen. Sie bemerkte kaum, wie das Gespann lostrabte. Ebenso verblassten die Geräusche und Gerüche der Stadt mit den weißen Mauern. Bella, die Schöne, verschwand hinter den Wänden der Kutsche. Mirza saß in Gedanken schon an dem kleinen Bach hinter dem Haus ihrer Familie.
Mirza träumte.
Das Heu duftete herrlich, als sie ein Bündel nach dem anderen auf den Heuboden trug. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen durch die Ritzen in den Brettern und tauchte alles in ein schummriges Licht. Die Hitze des Tages wich und die Temperaturen wurden erträglich. Mirza war die letzte, die noch bei der Arbeit war. Alle anderen waren bereits ins Haus gegangen.
Den letzten Packen Gras in Händen stieg Mirza die Stufen hinauf. Zufrieden legte sie es zu den anderen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie zuckte zusammen, als eine kühle Hand sich in ihren Nacken legte. Lächelnd drehte sie sich um und sah in zwei goldene Augen. Lex lächelte sie an und hauchte ihr einen Kuss auf die gerötete Wange. Verzückt schloss Mirza die Augen und genoss jede seiner sanften Berührungen.
Sie fühlte seinen warmen Atem an ihrem Ohr, als er sprach: „Du böse kleine Hexe. Du hast mich verzaubert." Er küsste sie auf den Hals und Mirza seufzte zufrieden.
„Wer, ich soll dich verzaubert haben?"
Lex nickte. „Sicher. Du hast mich mit deinen Händen verzaubert. Und mit deinen blauen Augen." Mirza drehte sich um und küsste ihn flüchtig.
Doch als er sich zu ihr herunterbeugte um sie zurück zu küssen, begann er zu verblassen. Wie Nebel von einer Böe aufgelöst wurde, verschwammen seine Konturen und er wurde langsam durchsichtig. Erschrocken griff Mirza nach seinen Armen – und fasste durch ihn hindurch.
„Lex, was passiert mit dir?"
Er lächelte sie traurig an. „Tut mir Leid liebste Undine..."
Als Mirza das nächste Mal geblinzelt hatte, war Lex verschwunden. Sie stand wieder allein auf dem Heuboden. Doch das Gefühl seiner Hände und seiner Lippen hatte sich in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Plötzlich erschöpft sank sie auf die Knie. Das Gesicht in den Händen weinte sie bittere Tränen. Und die Tränen sammelten sich zu einem kleinen Herz, das zerbrochen auf den Dielen im letzten Tageslicht schimmerte.
Durch das Holpern der Kutsche über einige Schlaglöcher wachte Mirza auf. All ihre Glieder scheinen zu schmerzen, aber nicht nur das. Sie war nun schon seit Tagen unterwegs und so wie die Landschaft aussah, wäre sie wohl heute Abend daheim. Die gesamte Fahrt über hatte sie die verrückte Hoffnung im Herzen getragen, dass Lex sie zurückholen würde.
„Aber wie? Er denkt, ich will ihn nie mehr wiedersehen", murmelte Mirza vor sich hin. Im nächsten Moment kam sie sich albern vor und rieb sich übers Gesicht. Der Himmel draußen war grau, vollkommen untypisch für den Sommer in diesem Land.
Mutter sagte einmal, wenn die Gefühle eines Nymph sehr stark werden, kann er auch unbewusst sein Element beeinflussen, dachte Mirza, während sie die Wolken beobachtete. Bei Wut hatte sie es schon erlebt. Doch noch nie war es ihr zu Ohren gekommen, dass Trauer dieselben Auswirkungen haben konnte.
Wenn mich nur diese Träume nicht plagen würden, dachte sie. Sobald Mirza die Augen schloss, träumte sie von Lex. Ihre Großmutter Ayne würde ihr wohl wieder sagen, dass es ein Zeichen war. Mirza wusste das nur zu gut. Es war ein Zeichen dafür, wie dumm sie war. Sie konnte noch mal hundert Jahre leben und würde sich trotzdem dafür verfluchen. Durch diese eine hitzige Reaktion hatte sie eine Lawine in Gang gesetzt, die sie nun nicht mehr aufhalten konnte.
Mirza hatte die Hoffnung, dass daheim alles wieder gut werden würde. In ihrer vertrauten Umgebung würde sich sicher schnell diese verrückte Woche vergessen. Sie konnte in ihr altes Leben zurückkehren und so tun, als hätte es Phönix nie gegeben.
Wie es dem Boten wohl geht?, überlegte sie und hoffte, dass er wieder gesund war. Doch nicht lange, und sie dachte wieder an den Salamander mit den goldenen Augen.
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Mirza - Die Nymphen von Mirus (1)
FantasyDie Wassernymphe Mirza kann es nicht fassen - sie soll einen völlig Fremden heiraten?! So sehr es ihr auch widerstrebt, sie muss sich dem Befehl des Königs fügen und an seinen Hof kommen, um dort zu erfahren, wer ihr zukünftiger Mann sein wird. Denn...