Kapitel 3 | Ameih

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Ameih wachte auf, da ein paar Sonnenstrahlen durch den Eingang ihres Tipis schienen. Sie öffnete ihre Augen. Zuerst war die Sicht für das Mädchen unscharf, nachdem sie jedoch ein paar Mal geblinzelt hatte, erkannte Ameih die aufgespannten Bisonhäute ihres Tipis.

,Heute sind unsere Prüfungen', dachte Ameih mit gemischten Gefühlen. Sie wusste nicht genau, ob sie aufgeregt oder ängstlich sein sollte. Ameih musste zugeben, dass sie sich auch ein kleines bisschen auf die Prüfungen freute. Es war nun mal aufregend zu erfahren, welche Position man im Stamm haben würde; und außerdem war es die wichtigste Prüfung für alle Stammesmitglieder.

Jedoch überwiegte die Angst vor dem, was ihr und Lyra nach den Prüfungen erwarten würde, ihre Vorfreude. Ameih hoffte aus ganzem Herzen, dass Lyra es schaffen würde, den Stamm, beziehungsweise ihren Prüfer davon zu überzeugen, dass sie 'normal' und nicht blind war. Aber sie wusste, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass das passieren würde.

Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, entschloss sich das Mädchen, aufzustehen, um ihre Schwester zu wecken.

Nachdem sich Ameih umgezogen hatte, trat sie aus ihrem Tipi heraus. Die Sonne blendete sie, weshalb sie mit einer Hand ihren Blick abschirmte. Am Fuß eines Berges sah sie eine Herde Wildpferde galoppieren. ‚So frei wäre ich auch gerne', dachte Ameih mit einem Lächeln im Gesicht, bevor sie wieder ihren Blick von den Pferden abwandte und sich auf den Weg zu Lyras Tipi machte.

Ameih weckte jeden Tag ihre Schwester, warum, wusste sie selbst nicht mehr. Es war einfach zu ihrem morgendlichen Ritual geworden.

Als das Mädchen bei Lyras Tipi angekommen war, fand sie diese friedlich schlafend vor. ‚Am liebsten würde ich sie gar nicht wecken, so sorgenfrei sieht sie aus. Lyra hat einen schrecklichen Tag vor sich', dachte Ameih, bevor sie dann aber doch begann, ihre Schwester sanft wachzurütteln.

„Aufwachen! Heute sind unsere Prüfungen", sagte das Mädchen, damit Lyra aufwachte. Sie wusste zwar nicht, ob es besonders schlau war, ihre Schwester gleich beim Aufwachen an die bevorstehenden Prüfungen zu erinnern, aber jetzt war es sowieso zu spät.

Ameih sah, wie Lyra ihre hellblauen Augen öffnete. Dieser Anblick erinnerte sie an ihre Mutter. Sie hatte genau die gleiche Augenfarbe wie ihre Schwester gehabt, während sie selbst nur die hellbraunen Augen ihres Vaters geerbt hatte.

Da Ameih in Lyras Augen Angst, sowie Sorge erkennen konnte, versuchte sie ihr gut zuzureden, um ihr vielleicht etwas Hoffnung schenken zu können. Nach einem kurzen Wortaustausch verlies das Mädchen das Tipi ihrer Schwester, damit diese etwas Zeit für sich selbst hatte.

‚Sie wird es schon irgendwie schaffen. Und wenn nicht, leben wir dann halt im Wald. Da sind zwar die Verbannten, vor denen wir uns in Acht nehmen sollten, aber wir wären zumindest frei', dachte Ameih sehnsüchtig, während sie darauf wartete, bis Lyra aus ihrem Tipi kam.

Weil Ameih nichts Besseres zu tun hatte, außer zu warten, sah sie sich etwas im Lager um. Die meisten Stammesmitglieder schliefen noch in ihren Tipis, einige waren aber auch schon wach und machten Jagd, aßen etwas oder kümmerten sich um die Pferde. Auch ein paar Kinder waren schon wach und spielten im Lager.

Ameih atmete die frische Luft der erst kürzlich vergangenen Nacht ein und lies die Sonne ihr Gesicht wärmen. ‚Das Leben kann so schön sein', dachte sie, während sie die Wärme der Sonne genoss. Dann jedoch schob sich eine Wolke vor die Sonne und verdunkelte das Land. Mürrisch sagte das Mädchen daraufhin leise: „Manchmal aber auch nicht."

Nachdem sie das gesagt hatte, hörte sie Lyra hinter sich aus dem Tipi kommen. Um sie zu beruhigen, sagte Ameih: „Wir werden das schon irgendwie schaffen."

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