Kapitel 5 | Lyra

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Das erste, was Lyra spürte, als sie wieder ihr Bewusstsein gefunden hatte, war Schmerz. Ihre Handgelenke, ihre Beine, eigentlich hatte sie an jedem Körperteil Schmerzen.

Das Mädchen spürte den Schmutz an ihrer Kleidung und ihrem Körper kleben. Lyra öffnete die Augen und auch wenn sie nichts sehen konnte, wusste sie, dass sie immer noch im Tipi des Häuptlings war.

Sie hörte Stimmen vor dem Tipi, die sie nicht verstand, jedoch konnte sie anhand der Art, wie sie sprachen, erkennen, dass sie es wussten. Das sie wussten, dass sie blind war. Abschaum. Eine Satansbraut.

Zitternd versuchte Lyra ihre tauben Hände zu heben, um sich ihre Haare, die ihr unangenehm ins Gesicht gefallen waren, zu richten. Erschöpft lies sie dann aber wieder ihre Hände zurückfallen, sie hatte einfach nicht mehr genug Kraft für so etwas.

Das Mädchen kauerte sich zusammen, doch die eisige Kälte, die sie gnadenlos umgab, wollte einfach nicht weichen.

‚Warum ist Ameih nicht hier? Haben die anderen sie gefangen genommen? Wurde sie vielleicht schon verbannt? Oder noch schlimmer, getötet, weil sie mich beschützt hat? Oh, ihr guten Geister, warum tut ihr mir das an? Ist das meine Strafe, weil ich zu feige war, mich früher dem Stamm zu stellen? Bitte, lasst Ameih nichts geschehen! Nehmt mich, meinetwegen, aber nicht meine Schwester!', betete Lyra in Gedanken.

Bibbernd setzte sich das Mädchen wieder auf. ‚Ich muss Ameih retten, ihr wird bestimmt etwas zugestoßen sein. Wenn der Häuptling und der Schamane sie auch haben ... es wäre meine Schuld. Und wenn ihr etwas passiert - das könnte ich mir nie verzeihen. Ich muss mich irgendwie aus diesen Fesseln befreien, damit ich Ameih retten kann', dachte Lyra fest entschlossen und begann daraufhin zu versuchen, ihre Fesseln zu lösen, welche ihr noch fester zugeschnürt vorkamen, als sie es waren, als in Ohnmacht gefallen war.

Doch die Fesseln schürften dadurch nur noch mehr ihre sowieso schon wunden Handgelenke auf. Lyra versuchte trotzdem weiterhin irgendwie ihre Fesseln loszuwerden, gab dann aber schließlich auf, als ihre heiße Tränen vor lauter Schmerz die Wangen hinunterliefen.

Stumm fing das Mädchen an zu weinen und verlor mit den Tränen auch all die Hoffnungen, die sie noch gehabt hatte.
‚Wenn ich noch nicht einmal stark genug bin meine eigene Schwester zu retten ... ich bin schwach, so schwach. Ich bin schwach, blind und zu nichts zu gebrauchen! Wann habe ich je etwas allein hinbekommen? Ja, vielleicht habe ich es sogar verdient zu sterben', dachte Lyra, immer noch die Augen voll Tränen, während sie in Selbstmitleid versank.

Das Mädchen rollte sich zusammen und wünschte sich nichts sehnlicher, als entweder gerettet zu werden oder zu sterben. Nach ein paar Minuten versiegten dann ihre letzten Tränen, da sie zu erschöpft war, um zu weinen. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Als Lyra wieder erwachte, bemerkte sie sofort, dass etwas anders war als sonst. Statt dem harten, staubigen Boden unter ihrem Rücken, an den sie sich mit der Zeit sogar irgendwie gewöhnt hatte, spürte sie weiches, frisches Gras.

Im Lager roch es immer nach einer Mischung aus Bisonfleisch, Pferd und Mensch. Doch an diesem Ort roch das Mädchen keinen dieser Gerüche. Nein, es duftete herrlich nach Frühling, frischem Gras und Blumen.

Und Lyra hörte auch nicht die verspottenden Stimmen der Stammesmitglieder oder das Schnauben der Pferde. Sie konnte lediglich das leise Plätschern eines Baches, der weit entfernt von ihr lag, ausmachen.

Lyra stemmte sich auf und erst jetzt, wo sie stand, bemerkte sie, dass sie nicht mehr gefesselt war. Eigentlich hätte sich das Mädchen sofort ängstlich gefühlt, was ja jetzt auch nicht so überraschend wäre, sie war schließlich an irgend einem unbekannten und vor allem seltsamen Ort aufgewacht. Aber irgendwie fühlte sie sich hier sicher und geborgen, so als könne ihr niemand etwas anhaben, solange sie nur hierblieb.

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