Kapitel 1

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Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe und betrachte die vorbeiziehenden Gebäude Tokyos. Obwohl es schon recht spät ist, ist die Stadt hell erleuchtet von verschiedenen Schaufenstern, Bars und Nachtclubs. Ich war noch nie ein großer Fan von Städten, jedoch kann man nicht an ihrer Schönheit bei Nacht zweifeln. Wie Sterne sieht das Licht dort aus. Wie strahlende Hoffnung. Hoffnung...
Schweren Herzens löse ich meinen Blick von der nächtlichen Szene der Stadt, in der ich aufgewachsen bin und richte ihn auf den Monitor des Zuges. Noch zwei Stationen, dann müssen wir aussteigen. Wir? Ja, ich sitze nicht alleine im Zug, welcher bereits einen weiten Weg aus Miyagi zurückgelegt hat. Wir hatten am Morgen ein Trainingsspiel und nun sitzen wir immer noch erschöpft in dem Zugteil, welcher uns zurück nach Hause transportiert. Die meisten Mitglieder des Teams sind bereits an vorherigen Stationen ausgestiegen. Nun waren wir nur noch zu dritt. Hinter mir schnarcht Yaku vor sich hin. Er hatte heute wirklich eine erstaunliche Leistung erbracht. Er ist wirklich einer der besten Liberos, aber heute ist er einfach über sich hinausgewachsen. Ob es nun daran lag, dass er heute einen guten Tag hatte, oder an seinem vermehrten Training in den letzten Wochen, wird wohl bis auf weiteres ein Geheimnis bleiben. Vielleicht liegt sein Geheimnis aber auch ganz woanders. Dass er und Lev ein Paar geworden sind, ist kaum zu übersehen. Sie versuchen zwar es zu verstecken, aber nicht einmal Taketora hat es übersehen können. Ein kurzes Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich an ihre 'versehentlichen' Berührungen während des Trainings und an ihre dauernden Blicke zu dem jeweils anderen denke. Auch wenn Lev ihn wieder wegen seiner Größe aufzieht, liegt nun eine ungekannte Wärme in seinem Blick. Ach, wenn doch nur... Mein Lächeln wird abgelöst von einem undefinierbaren Gefühl. Ich weiß zwar nicht, wie ich es definieren soll, aber ich weiß, was es bedeutet. Diese bizarre Mischung an Gefühlen, die annähernd durch Trauer, Angst, Neid, Bitterkeit und doch einem Anflug von etwas anderem, was mich wieder lächeln lässt, beschrieben werden kann. Es bedeutet, dass diese Nähe der Beiden etwas ist, was ich niemals selbst erleben werde. Ich gebe zwar immer vor, 'der Coole' zu sein, aber eigentlich bin ich ein Softy, weshalb mir diese Gefühle beinahe das Herz zerreißen. Ich löse meinen Blick von einer Häuserreihe, wobei ich mir vorstelle, dass dort gerade viele Familien, eventuell auch mit Kindern, Vorbereitungen für das folgende Fest treffen. Wann war mein Blick eigentlich wieder aus dem Fenster geglitten? Ich weiß es nicht. Ein Blick zurück auf den Monitor sagt mir, dass wir an der nächsten Station aussteigen müssen. Kurz darauf erklingt auch die Durchsage, nach der Yaku träge den Kopf hebt.
"Sind wir schon da?", fragt er noch etwas benommen vom Schlaf.
"Ja, gleich", antworte ich knapp, noch immer in meinen Gedanken versunken.
"Schläft Kenma etwa immer noch? Sonst ist er doch nicht so müde.", fragt Yaku verwundert. Es stimmt, normalerweise schläft Kenma wirklich nicht so viel. Generell wirkt er in letzter Zeit anders. Irgendwie noch ruhiger und zurückgezogener als sonst, sofern das überhaupt möglich ist. Und eben auch müder. Ich wende mich dem kleineren Jungen auf dem Sitz neben mir zu, welcher tief und fest in einem Traum gefangen zu sein scheint. Es wirkt so, als wäre es ein schöner Traum, denn er hat den Mund zu einem leichten Lächeln verzogen und macht leise Geräusche, die einem Schnurren ähneln. Er ist wirklich wie eine Katze, egal auf welche Art und Weise man ihn betrachtet. Er ist diesen wundervollen Geschöpfen so ähnlich, nur Krallen hat er keine. Zumindest habe ich ihn noch nie wütend oder aufgebracht gesehen. Er sieht so friedlich aus, dass mir ganz warm ums Herz wird. Ich will ihn nicht aus seinem Traum reißen und wir fahren ja auch noch ein paar Minuten, also beschließe ich, ihn noch ein wenig schlafen zu lassen. Diesen Entschluss bereue ich kurz danach wieder. Hätte ich ihn doch nur geweckt! Plötzlich wird er unruhig, beginnt, das Gesicht zu verziehen und kneift die Augen immer fester zu. Sein Wimmern wird zu leisen Schreien, sodass Yaku besorgt von seinem Handy aufschaut.
"Was hat er denn?"
"Einen bösen Traum", antworte ich.
"Hey, Kenma! Aufwachen!"
Sanft rüttele ich an seinem Arm, doch als das nichts bringt, werde ich energischer. Zum Glück schlägt er erschrocken die Augen auf. Zunächst wirkt er panisch und scheint nicht zu wissen, wo er sich befindet.
"Kenma, es ist alles in Ordnung. Du sitzt im Zug nach Hause, also beruhige dich. Es ist alles gut!", höre ich Yakus Stimme beruhigend von hinten. Ich glaube, dass die Worte nicht zu ihm durchdringen, also lege ich beruhigend meine Hand auf seine Schulter und versuche mit meinen Augen seinen Blick aufzufangen und festzuhalten. Als mir dies gelingt, fängt Kenma langsam an sich zu beruhigen, doch er zittert fürchterlich. Er tut mir Leid. Noch mehr tut es mir weh zu sehen, dass es ihm scheinbar absolut nicht gut geht. Es tut mir weh, ihn leiden zu sehen. Ich sehe den Schmerz in seinen Augen, das Leid. Nur ein Flackern. Kaum sonst jemandem wäre es aufgefallen, aber ich kenne ihn schon so lange, mir entgeht so etwas nicht. Ich kenne ihn besser als irgendeine andere Person auf dieser Welt. Er ist mein bester Freund und die wichtigste Person in meinem Leben. Ich würde alles für ihn geben und aufgeben, sogar Volleyball.
"Ist alles Ok? Das muss ja ein schlimmer Traum gewesen sein.", sage ich, während ich aufstehe, da der Zug bereits beginnt langsamer zu werden. Auch Yaku und schließlich auch Kenma stehen auf.
"Ja, alles Ok. Entschuldige.", murmelt mein Kumpel, jedoch glaube ich ihm kein Wort. Ich möchte ihn fragen, was los ist. Ich möchte ihn fragen, warum er sich so seltsam verhält. Ich möchte ihn fragen, was er denn so schlimmes geträumt hat. Ich möchte ihn trösten. Für ihn da sein. Ja, ihn sogar in den Arm nehmen. Aber ich weiß, dass das nicht möglich ist. Erneut überrollt mich eine weitere Welle des undefinierbaren Gefühls.
"Naja, jetzt ist ja alles wieder in Ordnung, Kenma. Außerdem musst du dich doch nicht entschuldigen.", erwiedert Yaku mit einem aufmunternden Lächeln. Der Zug hält sanft an dem südlichen Bahnhof von Tokyo und wir steigen aus.

KuroKen: Sakura Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt