Kapitel 10

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Als ich durch die geöffnete Tür starre, bleibt mir der Mund offen stehen. Kenma, mein geliebter Kenma, liegt fast nackt auf dem Boden, nur seine Unterhose hat er noch an. Er hat so viel mehr blaue Flecken, als gestern und sein Gesicht ist mit getrocknetem Blut verklebt, welches wohl von einem kräftigen Schlag auf die Nase zu stammen scheint. Seine von Schweiß und Blut durchnässten Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht. Kenmas Hände sind hinter seinem Rücken mit einem Seil an dem rostigen Heizrohr festgebunden und ein Streifen Klebeband klebt auf seinem Mund, was seine gedämpften Schreie erklärt. Über ihm hockt kein Geringerer, als ein Oberteilloser Kaito. Mit der einen Hand drückt er Kenma halb die Kehle ab, die Andere hat er bereit zum Schlag erhoben. Mir wird schlecht, wenn ich sehe, wie sehr er Kenma gequält hat und die überall verteilten Blutspritzer machen es nicht besser. Beide Männer wenden mir überrascht ihre Gesichter zu. Kaito sieht für den Bruchteil einer Sekunde entsetzt und wütend aus, dann hat er sich direkt wieder unter Kontrolle. In Kenmas trostlos stumpfen Augen glimmt nach ein paar Sekunden des realisierens Hoffnung auf. Ein unverständliches Wimmern ertönt durch das Klebeband und seine Augen glänzen feucht. Mit zusammengekniffenen Augen und einem Blick härter als Eis steht der Ältere auf und geht langsam auf mich zu. Seine gefährliche Aura ist jetzt noch um Einiges bedrohlicher, als am frühen Mittag und er macht mir richtig Angst. Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen, doch meine Knie zittern ungewohnt. Ungefähr einen Meter vor mir bleibt er stehen. Kühl mustert er mich von oben bis unten. Wir sind fast gleichgroß, aber ich fühle mich verdammt klein. So viel Angst bin ich nicht gewöhnt, das hatte ich noch nie. Ich habe gerade gesehen, wozu er fähig ist. Aber ich fühle, dass das lange nicht alles ist, was er anderen Menschen ohne schlechtes Gewissen antun kann. Doch der Gedanke an Kenma gibt mir Kraft. Ich richte mich zu meiner vollen Größe auf und starre ihm fest in seinen kalten Blick.
"Du bist also dieser ach so tolle Kuroo", sagt er mit seiner tiefen Stimme, die so bitter und scharf ist, dass sie einem fast ins Fleisch schneidet.
"Ja. Lass Kenma sofort in Ruhe!", sage ich und versuche dabei fest und ebenfalls bedrohlich zu klingen. Scheinbar funktioniert es nicht, denn ein furchteinflößend böses Lächeln huscht über sein Gesicht.
"Und was, wenn nicht?"
Er geht einen Schritt auf mich zu und ich weiche zurück. Ich stehe nun mit meinem Rücken an der Wand, jeder Fluchtweg ist abgeschnitten. Dann passiert alles ganz schnell. Ein Irrer Blick schleicht sich in seine hellbraunen Augen und spätestens jetzt bemerke ich, dass er durchgedreht ist. Er greift an seinen Gürtel und zieht ein langes Messer aus einer Halterung hervor. Ein entsetztes, angstvolles Jaulen ist von Kenma zu hören, da hebt der hasserfüllte Mensch vor mir bereits seine Hand. Die Klinge blitzt im schwachen Licht der Deckenlampe hell auf. Ein weiterer gedämpfter Schrei Kenmas zerreißt mir das Herz. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen konnte. Es tut mir so leid, dass ich so ein schlechter Freund für dich war. Es tut mir so leid, dass ich dir niemals meine Liebe gestehen konnte. Ich schließe meine Augen und warte auf den stechenden Schmerz, der mir mein Leben aushaucht.
"Ich liebe dich!", rufe ich und fast gleichzeitig ertönt ein Ohren betäubender Knall, gefolgt von einem klirrenden Geräusch. Ich öffne meine Augen und sehe, wie Blut von Kaitos Hand tropft. Die Kugel der Polizistin, die hinter ihm steht, hat genau getroffen. Nur wenige Zentimeter neben meinem Kopf sehe ich das Einschussloch in der Wand. Kraftlos und tränenüberströmt sinke ich zu Boden, während meine Lebensretterin Kaito Handschellen anlegt und den laut fluchenden Irren abführt. Eine weitere, sehr nett wirkende Polizistin hockt sich neben mich und versucht mich zu beruhigen.
"Brauchst du einen Krankenwagen?", fragt sie mich mit einfühlsamer Stimme. Ich schüttele den Kopf. Ich brauche nur Kenma. Ich blicke mich um und sehe, wie ein dritter Polizist ihn gerade von seinen Handfesseln befreit. Ich stehe mühsam auf und laufe in seine Richtung. In dem Moment, in dem er von seinen Fesseln erlöst ist, springt der Kleinere auf und rennt zu mir. Mit Wucht fällt er in meine Arme und wir gehen erneut zu Boden. Ich Schlinge meine Arme um ihn, drücke ihn fest gegen meine Brust. Er vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge und weint sich die Seele aus seinem dünnen Leib. Ich hingegen vergrabe meines in seinen Haaren. Mir laufen ebenfalls die Tränen und ich kann ein leises Schluchzen nicht unterdrücken. Ich versuche, mich durch seinen Duft trösten zu lassen, doch dieser treibt nur mehr und mehr Tränen in mir hoch. Ich fühle seine Wärme an meinem Körper und seine Tränen an meinem Hals. Er hält mich so fest und ich erwiedere den Druck mindestens genauso fest. Wir geben uns gegenseitig Halt. Ich will ihn niemals wieder loslassen. Auch seine Eltern und Haruki sind mittlerweile hier oben und umarmen uns beide weinend. Keiner kann wirklich glauben, dass Kaito so etwas schreckliches verbrochen hat. Nach einer Weile hört der Körper meines Kenmas plötzlich auf zu beben und er hebt leicht den Kopf. Auch ich sehe ihn an. Direkt in seine so wundervollen Augen.
"Mh Mhmh mhm mhh", gibt er leise von sich. Leicht lächele ich ihm zu.
"Ich kann dich so leider nicht verstehen, Kätzchen.", flüstere ich und ziehe ihm so sanft es geht den Streifen Klebeband ab, der sich immernoch über seinem weichen, zartrosa Mund befindet.
"Ich liebe dich auch", wiederhole er mit leiser Stimme und mein Herz setzt bei seinen Worten wieder einmal komplett aus. Mein Gehirn ebenfalls. Ich beobachte, wie sich Kenmas Wangen rosa färben, während er mich weiter unverwandt ansieht. Auch ich bin bestimmt wieder knallrot. Ich hebe meine rechte Hand und streiche ihm sanft eine verklebte Strähne hinter sein Ohr. Es tut so gut, es auch einmal im wachen Zustand zu tun. Leicht beuge ich mich nach vorne, damit ich seinen Mund wieder verschließen kann. Dieses Mal natürlich mit meinen Lippen, die ich sachte auf seine drücke. Er erwiedert den Druck mit geschlossenen Augen und auch ich halte meine nicht länger offen. Sanft streichen unsere Münder übereinander und mein kompletter Körper beginnt zu kribbeln. Unglaublich! Widerwillig trennen wir uns nach einer viel zu kurzen Zeit voneinander. Verträumt schaue ich wieder in seine goldenen Katzenaugen, die mir einen Ausdruck von Liebe schenken. Vorsichtig stehe ich auf und helfe dem entkräfteten Jungen meines Herzens ebenfalls beim Aufstehen.

KuroKen: Sakura Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt