Kapitel 9

3.5K 244 14
                                    

Meine schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Wir haben den ganzen Tag lang gesucht, ihn aber nicht gefunden. Keiner unserer Suchtrupps hat das. Wir sind ziemlich niedergeschlagen und erschöpft. Alle, bis auf einen: Kaito. Er hat in der kompletten Zeit nicht einen Muskel geregt. Auch hat er während des Suchens kaum gesprochen und nur geradeaus gestarrt. Er hat nicht nach Kenma gesucht oder sich sonst irgendwie beteiligt. Ist ihm sein angeheirateter Verwandter etwa so egal? Spätestens jetzt habe ich beschlossen, dass ich ihn nicht mag. Nur einen Satz hat er heute gesagt. Er hat mich gefragt, ob ich dieser beste Freund bin, von dem Kenma die ganze Zeit redet. Die Worte 'bester Freund' betonte er dabei nicht auf die kalte, neutrale Weise, wie er sonst spricht, sondern irgendwie... schärfer. Nachdem ich seine Frage bejaht hatte, schaute er mich nur eine Weile undeutbar an und drehte sich anschließend kühl weg. Ein seltsamer Typ ist das... Nun schließe ich mit einem leisen Klack meine Haustür auf und schmeiße meine Jacke rücksichtslos auf den Boden. Die Schuhe ebenfalls. Es hatte in der Nacht noch sehr viel geschneit und es war höllisch anstrengend gewesen, den ganzen Tag durch den fast Hüfthohen Schnee zu stapfen. So viel Schnee habe ich noch niemals gesehen und ich glaube nicht, dass es das hier überhaupt schon einmal gab. Wo auch immer Kenma ist, ich hoffe, er hat eine trockene und warme Stelle gefunden, denn bei diesem Wetter würde er sonst nicht lange überleben. Die Vorstellung, dass mein Kenma nass und durchgefroren irgendwo liegt oder sogar schon tot sein könnte, zerreißt mein Herz. Es tut so sehr weh, dass ich das Gefühl habe, dem nicht mehr standhalten zu können. An den Schuhen, die auf der Treppe stehen, erkenne ich, dass meine Eltern bereits zurückgekommen sind. So leise wie ich kann schleiche ich die Treppe hoch. Ich habe keine Lust, meinen Eltern zu begegnen. Ich möchte nicht mit ihnen reden und ich möchte auf keinen Fall, dass sie mich so sehen. So aufgelöst und den Tränen nahe war ich noch nie. Ich bin komplett durchgenässt und langsam spüre ich die enorme Kälte. Wie sie durch meine Haut dringt, in meine Knochen kriecht und sich mit meinem gebrochenen Herzen zu einer schmerzhaften Mischung vereint. Mit hängenden Schultern tappe ich in unser gemeinsames Badezimmer und drehe die Heizung auf. Ich schäle mich aus meiner Kleidung und stelle mich unter die Dusche. Das warme Wasser läuft über meinen schmerzenden Körper, doch die erhoffte Beruhigung und der gewünschte Trost bleiben aus. Erschöpft und ausgelaugt schleppe ich mich nach der ausgiebigen Dusche in mein Zimmer und erreiche mit meiner letzten Kraft mein Bett, in das ich mich wie einen alten Kartoffelsack hinein fallen lasse. Bei Kenmas süßem Duft steigen mir erneut Tränen in die Augen und ich kann sie nicht mehr zurückhalten. Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor so sehr geweint habe, wie jetzt. Wo bist du nur? Was ist mit dir passiert? Hat es etwas mit deinen Verletzungen zu tun? Bist du weggelaufen? Oder wurdest du etwa entführt? Ach, Kenma... Morgen ist der 25. Dezember. Weihnachten. Ein Weihnachten ohne Date. Ein Weihnachten ohne Kenma. Egal, ob wir nun zusammen sind oder nicht, ein Fest ohne ihn kann und will ich mir nicht vorstellen. Ein Leben ohne ihn kann und will ich mir nicht vorstellen. Mein Herz tut weh, ich vermisse ihn so sehr. Wie lange liege ich nun schon hier und weine? Ich habe komplett mein Gefühl für Zeit verloren. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass wir kurz nach 1 Uhr morgens haben. Mühsam stehe ich auf, um das Licht auszuschalten. Doch bevor ich zurück zu meinem Bett gehe, sehe ich ein grünliches schimmern. Das kommt bestimmt wieder durch diesen hässlichen Vorhang vor Kenmas Dachboden. Diese Person, die ich gestern dort gesehen habe, war das Kaito? Ich trete an das Fenster und schaue hinaus. Tatsächlich, drüben brennt Licht. Vielleicht wohnt Kaito wärend seines Aufenthaltes da? Ich will mich gerade wieder abwenden, da erregt etwas meine Aufmerksamkeit. Ein Schatten, der sich dunkel von dem hellen Stoff abhebt. Doch das ist nicht Kaito, der Schatten ist viel zu schmal und auch deutlich zu klein. Ist das...!? Nein, das kann doch nicht sein, oder? Ich irre mich bestimmt, denn alles Andere würde keinen Sinn ergeben. Aber als eine kleine Hand nach dem Vorhang greift, eine größere sie danach unsanft davon wegreißt und anschließend der Schatten von einem größeren abgelöst wird, verfalle ich in eine Schockstarre. Ungläubig starre ich auf das, was sich da gerade in Form eines Schattenspiels vor mir abspielt. Alles in mir fühlt sich taub an und die Zeit scheint in Zeitlupe zu verlaufen. Wie unter Wasser verschwimmen die leisen Geräusche meines Zimmers. Das ticken der Uhr, das leichte knarren des Daches unter der ungewohnten Schneelast, das leise klappern der Fenster. Als der dunkle Schatten energisch die Hand hebt, fängt die Zeit plötzlich wieder an zu laufen. Ich spüre mein Herz klopfen und höre das Rauschen meines Blutes, als sich meine versteiften Muskeln lösen. Noch nie in meinem Leben war ich so schnell wie heute die Treppe herunter gerannt. Ungefähr bei der Hälfte stolpere ich und fliege fast kopfüber den Rest der Treppe runter, doch ich kann mich zum Glück gerade noch am Treppengeländer festhalten. Ich stürme aus der Tür. Es ist mir egal, dass diese weit offen bleibt. Es ist mir auch egal, dass ich vermutlich gerade nicht nur meine Eltern, sondern auch die halbe Nachbarschaft wecke. Keuchend und nach Luft schnappend komme ich an Kenmas Haustür an. Bevor ich klingele, muss ich allerdings noch etwas sehr wichtiges erledigen. Dass es notwendig ist, sagt mir mein Gefühl. Schnell suche ich meine Hosentaschen ab. Scheiße! Ich habe mein Handy in meinem Zimmer liegen gelassen! Mit eindeutig mehr Kraft, als notwendig gewesen wäre, hämmere ich auf die arme Klingel ein und warte voller Ungeduld darauf, dass jemand die Tür öffnet. Bestimmt wissen seine Eltern nichts von dem, was sich gerade bei ihnen abspielt. Oder... etwa doch? Eine Gänsehaut überkommt mich. Bitte, das darf einfach nicht wahr sein! Es dauert tatsächlich keine Minute, bis Kenmas Vater die Tür aufreißt. Hinter ihm steht mit roten, verheulten Augen seine Frau. Beide haben dunkle Augenringe und es ist ihnen deutlich anzusehen, dass sie bisher keine Sekunde geschlafen hatten.
"Kuroo! Hast du etw..."
Weiter kommt er nicht, denn mir und vor allem Kenma fehlt dafür die Zeit.
"Poli..zei...", unterbreche ich sie immer noch außer Atem. Ohne eine Antwort abzuwarten, dränge ich mich an ihm vorbei in das etwas ältere Haus und hechte die schmale Holztreppe zum Dachboden hoch, mein Ziel in Gedanken klar vor Augen. Es dauert in Wahrheit wahrscheinlich nur etwa 10 Sekunden bis ich oben bin, doch für mich fühlt es sich wie Stunden an. Als ich oben ankomme, versuche verzweifelt die Tür zu öffnen, doch sie ist scheinbar von innen abgeschlossen. Einen Schlüssel kann ich nicht finden, doch das Holz ist sehr alt. Vielleicht kann ich es durchbrechen? Vorsichtig teste ich, inwiefern die Tür meinem einfachen Druck standhält, doch als ich von drinnen einen erstickten Laut voller Angst höre, ist mir egal, ob es funktioniert und was die Konsequenzen sind. Ich erkenne die Stimme sofort. Jetzt gibt es keine Zweifel mehr. Es klingt, als würde er versuchen zu schreien, jedoch seltsam gedämpft. Ich gehe ein paar Schritte zurück, sammele all meine Kräfte und schleudere meinen Körper mit einer Wucht, welche ich mir selbst nie zugetraut hätte, gegen die Tür. Ein lauter Knall ertönt, doch ansonsten passiert nichts. Erneut nehme ich Anlauf und renne dieses Mal mit vorgezogener linker Schulter dagegen. Ich höre das morsche Holz splittern und ein gewaltiger Schmerz explodiert in meiner Schulter.
"Scheiße!", fluche ich. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich meine Schulter noch einmal so belaste. Noch weniger weiß ich, was mich auf der anderen Seite der Tür erwartet. Mit einem kräftigen Tritt an die Stelle, die am meisten kaputt aussieht, löst sich ein Brett und ich kann damit endlich die verdammte Tür aufstemmen. Ich renne durch den großen, leeren Raum auf den kleineren Abstellraum an der Seite zu, aus dem weiterhin gedämpfte Geräusche und Stimmen dringen. Ich atme einmal tief durch, bevor ich die Tür öffne.

KuroKen: Sakura Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt