- 4 Jahre später -
Es ist gerade 17:18 Uhr als ich die Türe zu unserer Wohnung öffne. Na gut, es ist keine Wohnung, eher ein grosses Apartment. Meine Eltern sind natürlich noch nicht zu Hause, ist auch klar wenn man weiss, dass die beiden sehr erfolgreiche Ärzte im Hôpital de l'Hôtel-Dieu sind. Falls sie nach Hause kommen, dann erst später.
Im Wohnzimmer ist es still, die Herzchendecke meiner Mutter liegt ordentlich zusammengefaltet neben dem frisch aufgeschüttelten Kissen. Die Putzfrau, die seit 2 Jahren hier arbeitet, macht ihre Arbeit noch immer so gut wie am Anfang. Mein Vater, die Perfektion in Person, legt sehr viel Wert auf Shannelles Arbeit. Sie kommt aus Vietnam, spricht fliessend französisch und hat mir ihre Muttersprache beigebracht. Papa bezahlt ihr nicht nur den Lohn, er unterstützt auch ihre beiden Töchter finanziell. Die beiden sind hochbegabte Musikerinnen und können nur Dank seiner Investitionen am Konservatorium studieren. Ich vermute, Shannelle würde sich bis an ihr Lebensende weigern, mit ihrer Arbeit hier aufzuhören, selbst wenn sie keinen Lohn dafür bekäme.
Ich steige die Wendeltreppe hoch und öffne die Türe zu meinem Zimmer. Der Duft von Vanille und frischen Blumen weht mir entgegen und Sonnenstrahlen fallen durch das offene Fenster. Offen? Mein Blick fliegt zu meinem Bett. "Wenn ich dein Erzfeind wäre, hätte ich gerade 3 Sekunden Zeit gehabt, dich zu killen." Meine beste Freundin Darcy sitzt auf meinem Bett, eingemummelt in eine Decke und hält in den Händen eine Tasse heissen Tee. "Ich bin zu erschöpft um umgebracht zu werden", beklage ich mich, werfe meine Tasche in eine Ecke und lasse mich neben ihr auf das Bett sinken. Sofort hält sie mir eine zweite Tasse hin und legt eine Decke um meine Schultern. "Du bist die Beste", seufze ich. "Das mit dem Einbruch vergessen?", will sie wissen und lächelt mich mit ihrem Hundeblick in den Augen an. "Aber so was von. Ich nehme mal an, du hast auch den Tee hier gekocht?" Sie verdreht die Augen. "Denkst du, ich schleppe eine Thermoskanne quer durch Paris? Im Hochsommer?" "Aber Kuscheldecken im Hochsommer sind in Ordnung", stelle ich lachend fest. Darcy stellt ihre Teetasse auf meinen Nachttisch und zieht ihren Laptop hinter sich hervor. "Was steht an?", frage ich und werfe einen Blick auf ihren Bildschirm während ich an meinem Tee nippe. "Heute im Training ist Tiefenpsychologie dran. Im Unterricht ist Geschichte auf dem Stundenplan, später noch Informatik. Wahrscheinlich hacken wir uns in das Sicherheitssystem irgendeiner Firma und manipulieren langweilige Dokumente." "Tiefenpsychologie, oh Gott nein."
Ich hasse dieses Fach. Für diese Lektionen bekommen wir aus dem Hochsicherheitsgefängnis Häftlinge, bei denen keine Chance auf Besserung besteht und wir müssen sie dann so manipulieren, dass sie 'denn Sinn des Lebens wieder finden', wie unser Lehrer zu sagen pflegt. "So schlimm ist das gar nicht", protestiert Darcy. "Nur weil du es kannst, ist es nicht gleich super", meldet sich eine Stimme aus der Richtung meiner Zimmertüre. Dort steht Cyrano, der Bruder von Darcy. "Danke für deine Unterstützung, Cyr."
"Hast du die Muffins, grosser Bruder? Ich hab Hunger." Meine Augen beginnen zu leuchten. "Du hast Muffins gebacken?", schreie ich auf und stürze mich auf ihn, Darcy mir hinterher.
(An dieser Stelle muss man vielleicht noch bemerken, dass er die allerbesten Muffins macht, die es überhaupt gibt.)
Cyr rennt lachend davon und versucht, den Korb mit dem frischen, noch warmen Gebäck zu retten. Wir jagen ihn die Treppe hinunter und schliesslich erwischen wir ihn im Wohnzimmer. Gemeinsam packen wir ihn, drücken ihn aufs Sofa und setzten uns auf ihn drauf. "Ach Mensch, Mädels. Das sind nur Muffins", sagt er grinsend, als Darcy ihm den Korb entwendet. Triumphierend stossen wir mit zwei der kleinen Kuchen an. "Willst auch was?", frage ich und halte ihm meinen Muffin vor den Mund. Er beisst ab, kaut und fixiert mich mit seinem Blick. Als er runtergeschluckt hat, hebt er seine Hand und zieht meinen Kopf zu sich hinunter. Nachdem er mir einen Kuss auf den Mund gedrückt hat, leckt er sich genüsslich über die Lippen. "Ach, ihr seid doch einfach zu süss", schwärmt Darcy, die uns verträumt anschaut. "Tatsächlich, Ella schmeckt wirklich nach Schokolade." Ein schelmisches Grinsen lässt sein Gesicht erstrahlen. "Okay, schon gut, das reicht. Sonst wird mir noch übel", ruft seine Schwester und steht auf. Sofort umschliesst Cyr mich mit seinen langen Armen und steht auf, reisst mich mit und folgt Darcy die Treppe hoch in mein Zimmer. "Lass mich los", protestiere ich. Er schüttelt nur den Kopf und beisst wieder in meinen Muffin.
Oben angekommen vertilgen wir innert kürzester Zeit all das leckere Gebäck. Da wir noch genug Zeit haben, bevor wir los müssen, plaudern wir noch ein bisschen über den Tag. "Ich habe mich heute wieder einmal köstlich ab unserem Lehrer amüsiert. Versucht der uns doch Englisch beizubringen und kommt gerade mal selber knapp mit der Grammatik klar. Stellst du ihm eine Frage, die Fachwissen braucht, ist er hilflos wie eine Zitrone." Lachend wirft Darcy ein Kissen nach mir. "Du sollst doch die Lehrer nicht verärgern", tadelt sie mich. "Warum eine Zitrone?", will Cyr wissen. "Er hat einen ovalen Kopf und leicht gelbliche Haut. Und er heisst Citroën." Kopfschüttelnd steht er auf und streckt sich. "Wir sollten uns langsam aber sicher auf den Weg machen." "Ach nee, ich habe die üble Vermutung, dass Grunier uns heute wieder kämpfen lässt", grummelt Darcy. Ich stehe auf und halte ihr die Hand hin, damit ich sie hochziehen kann. Als sie neben mir steht, klopfe ich ihr aufmunternd auf die Schulter. "Du weisst doch, dass wir dir helfen." Cyr kommt zu uns und nimmt uns in den Arm. "Zusammen schaffen wir das immer. Wir sind schliesslich der Lavoisier-Stoyan-Club." Grinsend sehen wir zu ihm auf und drücken ihm gleichzeitig einen Kuss auf die Wange. "Und ich bin der glückliche Hahn im Korb." Darcy streckt ihm ihre Zunge raus und verschwindet im Badezimmer.
Wir ziehen uns unsere dunkelgrauen Jogginghosen und die dunkelblauen T-Shirts an. 1. Vorschrift unserer Schule: Wir benutzen weder den öffentlichen Verkehr noch sonstige Fahrzeuge, um zur Schule zu gelangen. Deshalb müssen wir wohl oder übel laufen. Die Schulmaterialien brauchen wir zu Hause nicht (danke fotografisches Gedächtnis!), da wir uns so oder so alles, was auf Papier steht, sofort merken können. Und andere Kleidung brauchen wir nicht mitzunehmen, da wir eine Schuluniform haben und die nur im Schulgebäude getragen werden darf. Ich verstaue die Schulmaterialien der 'normalen Schule' in meinem Schrank. Obwohl wir morgen eine Prüfung schreiben, werde ich dafür überhaupt gar nichts lernen. "Wie lange haben wir Zeit, um zum Louvre zu gelangen?", fragt Darcy, die gerade in ihre kurzen Hosen schlüpft. "19 Minuten." Ich scheuche die Stoyan-Geschwister aus meinem Zimmer und mache die Türe zu.
Da wir nun auf dem Weg zur Ausbildungsstätte der Geheimagenten der OISA sind, poltern wir nicht die Treppe runter. Wir heissen auch nicht mehr Darcy, Cyrano und Ella. Nein, wir sind jetzt Kyria und Dante Salvador und Alysha Weatherby. Lautlos gleiten wir die Wendeltreppe hinab, durchqueren das Wohnzimmer und öffnen die Eingangstüre. Dank der Automatik, die darin eingebaut ist, brauche ich keinen Schlüssel um die Türe zu öffnen. Ich brauche nur meinen Finger auf den Scanner zu legen und schon springt das Schloss auf.
Wir joggen am Jardin du Luxembourg vorbei und laufen in Richtung der berühmten 'Pont des Arts'. Diese meiden wir allerdings, da sie voll von Touristen ist und passieren die Seine über die nächste Brücke. Während des ganzen Laufes biegen wir immer wieder in menschenleere Seitengassen ein, rennen ein Labyrinth und überqueren eine Brücke. Wir nehmen niemals dieselbe Route. "Endspurt, wir haben noch 3 Minuten", ruft Kyria. Der Rollentausch findet in meinem Kopf so automatisch statt wie der Sonnenauf- und untergang. Staunende Augen blicken uns nach, als wir unser Tempo noch höher hinaufschrauben, durch den Jardin Tuileries und in eine Seitengasse zwischen dem Musée du Louvre und dem Palais Royal. Ein paar erschrockene Tauben fliegen davon, als wir lachend bei der Eingangstüre der OISA ankommen. "Ungefähr 17 Minuten", keucht Dante. "Salvador, Weatherby, Salvador", bellt eine Stimme hinter uns aus der Richtung des Palastes. Wir drehen uns um und suchen die Fensterreihen nach einer Gestalt ab. Schliesslich entdecken wir Monsieur Grunier in der dritten Etage. "Trainingseinheit Selbstverteidigung! Kein Blut, keine schweren Verletzungen!"
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Schrei der Eule
FantasyContense und George Weatherby sind kein Mythos. Die Geschichten ihrer Grossmutter sind wahr. Ella Lavoisier kann es kaum fassen, als der Agent Pierre Dumas ihr das erzählt. Plötzlich ist sie nicht mehr einfach Ella Lavoisier sondern auch Alysha Weat...