"Was meinst du, könnten wir über die Mauern klettern?" Argwöhnisch blicke ich hinauf und schirme meine Augen von der Sonne ab. "Hinauf ja, aber ich würde vorschlagen, dass wir das sein lassen. Wir können oben nicht einfach abspringen, wir würden uns sämtliche Knochen brechen wenn wir im Burggraben landen. Und bitte, die Burganlage ist von einer doppelten Mauer geschützt, willst du dazwischen einfach Runden rennen für deine körperliche Gesundheit, wenn du nicht schon von Kugeln durchlöchert wurdest?" "Also nur im absoluten Notfall."
Wir überqueren die alte Brücke, passieren das Tor von Narbonne und lösen uns unauffällig vom Touristenstrom. An der Mauer steht ein hölzerner Container, auf dessen Türe Staff steht. Dante steht Schmiere während ich nachsehe, ob die Türe offen ist. Sie schwingt einfach auf und ich stehe im Umkleide- und Essraum des Personals. Ich verschwinde zwischen den Kleiderständern und suche die passenden Grössen für uns heraus. "Da kommt jemand", warnt Dante mich. "Schon fertig, komm!" Wir verstecken uns hinter dem Container und ziehen uns in Windeseile die Uniformen an. "Praktisch, sehr grosse Hosentaschen und sogar Langarmshirt. Bei T-Shirts wären wir aufgeschmissen gewesen." Stimmt, dann hätten alle unsere Waffen gesehen. Ich ziehe das Lederband, welches ich mir um den Arm geschlungen habe, etwas fester an und fädle ein Messer dazwischen. Bewaffnet bis auf die Zähne stopfen wir die nun leeren Rucksäcke, in denen wir die Waffen transportiert haben, in einen Abfall und mischen uns wieder unter die Leute.
Wenig später befinden wir uns in der alten Festung. "Wir gehen wie die meisten Touristen zur Kathedrale und von dort aus zum Château." Ich nicke und orientiere mich kurz an einem der tausend Schilder. Die Cathedrale St. Nazaire liegt 10 Minuten westlich von uns, das 'Schloss' ist mit 7 Minuten nördlich angeschrieben. Schloss ist wahrscheinlich übertrieben, ich vermute, dass es einfach das edelste Haus in der Cité ist. Schliesslich haben dort die Grafen gewohnt und nicht der König von Frankreich. "Gut, aber in einer Viertelstunde sind wir im Schloss", verlange ich. Dante schnappt sich meine Hand und zieht mich vorwärts. "Wir dürfen unsere Schicht nicht verpassen", meint er. Grinsend laufe ich ihm hinterher. Die Überwachungskameras sind übersichtlich aufgestellt und leicht auszutricksen. Auf keiner Einzigen wird Grunier uns finden. Was dieser Halunke wohl gerade macht? Ich hoffe schwer, dass er Dumas nicht erwischt hat. Wenn auch ihm noch etwas zustösst, bringe ich Grunier eigenhändig um.
Durch eine schmale Tür treten wir ins Schloss ein. Es ist wirklich nicht prunkvoll, heute würde man es als hübsches Haus definieren. Ich höre ein dumpfes Poltern und drehe mich sofort in alle Richtungen. Als ich nichts entdecke, schaue ich zu Dante auf und will gerade fragen, ob er das auch gehört hat, da halte ich mir amüsiert den Mund zu, damit ich nicht laut zu lachen beginne. Mein Freund ist etwas zu gross für dieses Haus, er hat den Kopf an einem Balken angeschlagen und ein Blutrinnsal läuft über seine Stirn. "Du bist ein Held, mein Grosser", kichere ich und hole aus meiner Hosentasche ein Pflaster. "Lass das", grummelt er, muss aber auch grinsen. "Lass dich von der Lampe da vorne nicht überraschen", rate ich ihm und er verdreht nur die Augen.
Die Treppe zum Keller ist nicht schwer zu finden, allerdings haben wir die Befürchtung, dass es der einzige Ein- und Ausgang ist. "Wir können uns nicht mal sicher sein, dass diese verfluchte Vorratskammer da unten ist." "Nein, können wir nicht. Deshalb geh ich nachschauen", schlage ich vor und bevor Dante etwas erwidern kann, steige ich über die Absperrung und geh ich die Treppe hinab.
Unten ist es dunkel, doch ich wage es nicht, die Taschenlampe anzuschalten. Nach einer Weile haben sich meine Augen an das fahle Licht gewöhnt und ich erkenn die Umrisse des Raumes. Ich muss versuchen, wie meine Grossmutter zu denken. Wo hat sie die leckeren Kekse versteckt, die ich immer essen wollte? Nein, nicht was ich essen wollte, was sie in Sicherheit haben wollte vor mir. Ihr Lieblingsessen, Quiche au fromage, hat sie stets hinter einer zusätzlichen Wand vor Papy versteckt. Also, in ihrer Küche war es der dritte Schrank von links. Ich zähle die Schranktüren ab, öffne die Dritte und klopfe leise an die Rückwand. Hohl. Volltreffer! Ich blicke mich schnell um. Niemand da. Vorsichtig löse ich das Messer aus dem Lederband und durchsteche behutsam die Holzplatte. Dann säge ich langsam und aufmerksam die rechte und untere Seite los und biege die Platte anschliessend nach aussen. Sie bricht mit einem lauten Knacks. Staub wirbelt mir entgegen und ich fächle ihn mit der kaputten Platte weg. In der Nische zwischen der richtigen Wand und der, die Mamie angebracht hat, liegt ein in weisses Leinen eingewickeltes, faustgrosses Ding. Diese Eule ist nicht gerade gross. Trotzdem pocht mein Herz gewaltig, als ich sie herausnehme und betrachte. Die aus Ahornmaser geschnitzte Statue einer Schneeeule, deren Augen zwei aquamarinblaue Edelsteine sind, fühlt sich schwer in meiner Hand an. Das Holz ist geschmeidig und beinahe weich und trotzdem hat es eine gewisse Härte, die ich nicht beschreiben kann. Vorsichtig wickle ich sie wieder ins Leinentuch schliesse die Schranktüre und werfe die herausgebrochene Platte unter den Kochtopf. Lautlos schleiche ich mich wieder zur Treppe und blicke zu Dante hinauf. Nervös schaut er hin und her, also bleibe ich geduckt unten. Erst als er mir das Zeichen gibt steige ich hinauf. "Hast du..." "Ja, gefunden. Was machen wir jetzt?" "Weg von hier. Ich glaube, sie suchen schon nach uns."
Wir verlassen das Château und lassen uns mit dem grössten Touristenstrom in Richtung Ausgang treiben. "Siehst du die beiden Kerle da am Ausgang unauffällig herumstehen? Die habe ich eben durch das Fenster gesehen." "Verflucht. Seitenausgang, Kameras meiden."
So schnell wie nur möglich laufen wir durch die Gassen, überqueren ehemalige Marktplätze und weichen den Leuten so gut als möglich aus. Gerade als wir durch einen Hinterausgang schlüpfen, hören wir Rufe aus der Festung. "Lauf", raunt Dante mir zu und wir rennen los, so schnell wir können. "Da!", höre ich entfernt jemand rufen. Ich presse die Holzeule an mich und suche nach einer geeigneten Verteidigungsposition oder Versteck. "Was machen wir?", fragte Dante. "Ich habe keine Ahnung. Warum kann diese Eule uns jetzt nicht helfen? Wenn sie schon magische Kräfte hat!" Ich schiele kurz zu der kleinen Holzschnitzerei und meine, ein Aufblitzen der Augen gesehen zu haben. 'Das muss die Sonne gewesen sein', denke ich mir.
Wir rennen weiter, dicht gefolgt von den Kartell-Männer. "Not weckt mich", ertönt eine Stimme. Ich blicke mich suchend um. "Was ist denn?" "Hast du das eben auch gehört?" "Ich höre unsere Verfolger, ich höre uns, was meinst du?" "Not weckt mich, hat gerade jemand gesagt." Dante blickt auf die Eule und reisst die Augen auf, starrt aber schnell wieder geradeaus. "Die Eule." "Was ist damit?", frage ich und blicke in meine Hände. Eine kleine Schneeeule schmiegt sich in meine Handfläche und gurrt zufrieden. "Ich bin Alva", stellt sie sich vor und löst sich sanft aus meiner Hand. Mit ihren Krallen hält sich an meinem Pullover fest und kraxelt zu meiner Schulter hoch. "Biegt beim nächsten Haus rechts ab. Dort ist eine Baustelle, wo sie die Kanalisation reinigen." Ich nicke und ziehe Dante gleich mit, ohne ihn zu informieren. Wie Alva gesagt hat, ist die niedrige Türe zur Kanalisation offen. Wir schlittern die Treppe hinab und gerade, als wir unten verschwinden, laufen oben unsere Verfolger durch. "So", keucht Dante. "Ich will wissen, was los ist!"
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Schrei der Eule
FantasyContense und George Weatherby sind kein Mythos. Die Geschichten ihrer Grossmutter sind wahr. Ella Lavoisier kann es kaum fassen, als der Agent Pierre Dumas ihr das erzählt. Plötzlich ist sie nicht mehr einfach Ella Lavoisier sondern auch Alysha Weat...