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| Regina |

Es ist das seltsamste Weihnachtsfest, das ich in meinen zweiundzwanzig Jahren bisher erlebt habe.

Nicht nur, weil ich es fernab meiner Familie, alleine in London und in einem Büro, anstatt gemütlich Zuhause verbringe.
Noch nie war ich zur Weihnachtszeit auch so wenig in besinnlicher Stimmung wie dieses Jahr.

Seitdem Harry vor zwei Tagen meine Wohnung verlassen hat, habe ich keine ruhige Minute mehr.

Gestern hatte ich noch gehofft, er würde sich vielleicht doch nochmal melden oder vielleicht sogar vor meiner Türe stehen, aber nichts dergleichen ist passiert.
Und heute fährt er vermutlich, wie angekündigt, nach Holmes Chapel zu seiner Familie, ohne auch nur einen Gedanken an mich zu verschwenden.

Damit bin ich meinen wirren, unkontrollieren Hirngespinsten ausgeliefert, während ich in der Redaktion sitze, die über die Feiertage ohnehin auf Sparflamme läuft.
Die meisten Managements von Künstlern sind schwer bis garnicht erreichbar, womit mir eine Menge Zeit bleibt, diverse andere Nachrichten zu recherchieren.
Bei all dem lässt meine Konzentration jedoch zu wünschen übrig.

Ich weiß noch nicht einmal, worüber ich ständig nachdenke. Für mich steht doch längst fest, dass ich Harry besser kennenlernen und mich auf ihn, wohin auch immer es führen wird, einlassen will.

Die große Frage ist, wie er inzwischen zu dem Ganzen steht. Und diese Frage wird durch keine Grübelei dieser Welt beantwortet werden können.
Nur Harry selbst könnte weiterhelfen, aber von dem fehlt bislang jedes Lebenszeichen.

„Du wärst wohl gerne zuhause", lächelt mich Maya mitfühlend an, nachdem sie mich über ihren Bildschirm hinweg beobachtet hat.

Mein Blick muss schrecklich nachdenklich wirken. Vermutlich sollte ich wirklich froh sein, dass Grimmy nicht in der Redaktion ist.
Womöglich würde er mir direkt ansehen, dass das Thema Harry in meinem Kopf gerade um Einiges präsenter ist als die Tatsache, dass ich meine Heimat, Freunde und Familie vermissen würde.

„Schon gut", schüttle ich lächelnd den Kopf. „Ich war nur in Gedanken."

Die nächsten beiden Tage gestalten sich ganz ähnlich. Keine einzige Nachricht von Harry, dafür schicken mir Grimmy und Diego Bilder in diversen Weihnachtsoutfits mit ihren Familien.

Im Grunde meldet sich jeder bei mir, wünscht frohe Weihnachten und erkundigt sich nach mir, außer der Mensch, dem ich zwei Tage vor Heiligabend noch am nächsten war.

Es ist verrückt, wie kalt mich plötzlich all die Nachrichten und Anrufe, die mich erreichen, lassen - selbst die meiner eigenen Eltern - nur weil insgeheim etwas in mir auf Harry hofft.

Das muss in etwas das Gefühl sein, das Harry beschrieben hat, wenn auch in abgewandelter Form.
Mein Alltag, meine Familie und all meine alten Freunde langweilen mich, seitdem ich mich in den Gedanken verrannt habe, ich könnte eine Zukunft mit Harry haben. Als wäre er meine Zehn und mein altes Leben plötzlich eine solide Drei mit fadem Beigeschmack.

Mir ist bewusst, wie bescheuert und verblendet das ist. Immerhin ist Harry erst vor nicht allzu langer Zeit in mein Leben getreten und ich weiß kaum etwas über ihn, außer dass er in seinem Leben nicht besonders gut klarkommt.
Aber das latent genervte Stöhnen, als ich anstatt Harrys Namen, „Mama" auf meinem Display lese, ist ehrlicher als ich es je zu mir selbst sein werde.

wallflower || h.s.  ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt