a c h t u n d d r e i ß i g

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| Regina |

„Regina", murmelt mein Vater gedankenverloren und reicht mir einen Teil seiner Zeitung.
Ich wollte nie die Art Mensch sein, die nach ein paar Monaten Auslandsaufenthalt behauptet seine Muttersprache verlernt zu haben, aber es ist doch befremdlich, meinen Namen nun wieder in deutscher Aussprache zu hören. Noch seltsamer ist es jedoch, mit meinen Eltern auf der alten, hölzernen Eckbank unseres Landhauses am Frühstückstisch zu sitzen.

Lächelnd schiebe ich die Zeitung zurück zu meinem Vater. Es sind die Stellenanzeigen.
„Danke, aber inzwischen sind die auch online ausgeschrieben. Ich glaube, da werde ich fündiger werden."
„Na schön, wie du meinst", zuckt er mit den Schultern.

Meine Eltern drängen mich nicht dazu, direkt einen neuen Job zu finden, aber ich will ihnen selbst nicht unnötig lange auf der Tasche liegen. Schlimm genug, dass ich mich nun wieder bei ihnen einquartiert habe.

Gerade mal vier Tage bin ich wieder hier und trotzdem habe ich schon jetzt ein unheimlich schlechtes Gewissen.
Von meinem gebrochenen Herzen kann mich das jedoch auch nicht ablenken. Ein neuer Job hingegen vielleicht schon.
„Ich hab schon ein paar gute Angebote gefunden, ich schicke direkt ein paar Bewerbungen raus", nehme ich mir fest vor. „Beziehungsweise erst morgen. Heute treff ich mich noch mit den Anderen", schiebe ich dann hinterher und meine damit keinen anderen als meine alte Clique.

Ich habe das Gefühl, mich ständig für meine Rückkehr und Anwesenheit rechtfertigen zu müssen, obwohl es niemand von mir verlangt.
„Klar, wie du willst, Schatz", lächelt mich meine Mutter über den Frühstückstisch hinweg an - ruhig und ehrlich.

Meine Eltern sind schlichtweg erleichtert, dass ich wieder bei ihnen bin. Sie waren keine Sekunde enttäuscht oder vorwurfsvoll. Sie hatten noch nicht einmal genau erklärt bekommen wollen, weshalb ich keine Zukunft bei BBC Radio 1 haben kann. Für sie zählt bloß, dass ich nun wieder in der Nähe bin und vielleicht sogar das konventionelle, konservative Leben einschlage, wie sie es sich immer gewünscht haben.

Jeder in meinem Leben hier auf deutschem Boden geht davon aus, dass meine Zeit in England bloß eine Phase war, die nun zu einem Ende gekommen ist. Dass ich nun wieder zur „Vernunft" gekommen wäre und jetzt wissen würde, wo ich hingehöre.
Dabei wünsche ich mir immernoch jeden Tag in London, oder momentan sogar in Japan zu sein. Und ich kann hier noch nicht einmal erzählen, was in England tatsächlich passiert ist, wie unglücklich ich bin und wie sehr ich mir einen anderen Ausgang gewünscht hätte.
Ich kann und will niemand von diesem Trauerspiel mit Harry Styles erzählen.

„Regina, komm schon!", quengelt Lotte schon wieder, als wir gemeinsam mit Freunden in der Garage ihrer Eltern sitzen. Hier hatten wir uns immer getroffen, schon in der Grundschule.
Inzwischen haben sich unter uns einige Paare gebildet, die Minimum vier Jahre zusammen sind und von denen auch ich und Lukas einst eines waren. Aber mittlerweile bin ich wieder single und Rebecca und Kerstin, die mir gegenübersitzen, schwanger.

„Du erzählst überhaupt nichts aus London! Du hast dich, während du dort warst, schon so selten gemeldet. Du musst doch eine Menge erlebt haben!"
Lotte hat ja gar keine Vorstellung.
Neugierig sieht sie mich an und streicht sich ihr das kinnlange, braune Haar hinters Ohr.
„Du hast dir doch bestimmt den ein oder anderen Briten geangelt!"

Ich könnte nun erzählen, dass es nur ein Brite war, der mich in den letzten Monaten mehr Nerven gekostet hatte als ich ertragen konnte. Ich könnte erzählen, welche Odysee ich mit Harry Styles hinter mir habe. Dass ich ohne zu zögern für ihn durch die Hölle gegangen wäre und es sogar jetzt noch tue, während er mich nie wirklich gesehen hat.
Aber ich will nichts davon sagen, nicht darüber reden. Ich will nicht laut aussprechen und nicht erzählen, dass ich Harrys Nichts bin, während er mein Alles war - oder sogar ist.

wallflower || h.s.  ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt