Kapitel 23

82 4 0
                                    

»Prinzessin« ich griff nach dem Arm meiner Tochter, die sich sofort an mich schmiegte. Die Hand meines Sohnes hielt ich fest umklammert, während ich mit ihnen die Treppe hinunter eilte. »Lacrima, was ist hier los?« Anns schrille Stimme ließ mich zusammenfahren. Die Wachen bewegten sich, da meine Bilder für einen Moment flackerten. Ich griff mir an den Kopf und ging jeden einzelnen Mann durch. Sie waren alle wieder friedlich. Ich war noch nicht soweit, schoss mir sofort durch den Kopf. Die Bilder waren nicht stark genug verankert. Erster Widerstand keimte bereits auf. Wir sollten uns beeilen.
»Seine königliche Hoheit ist in der Bibliothek«
»Ich habe mit meinem Onkel gesprochen. Ich flehe dich an, nimm mich mit«
»Seid Ihr Euch sicher?«
»Ja!«
Ich konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Jetzt verlor er nicht nur mich und seine Kinder, sondern auch seine Frau. Denn die Scheidung war noch längst nicht durch. Ich deutete ihr die Hand meines Sohnes zu ergreifen und gemeinsam eilten wir aus dem Haus. »Mama? Wo gehen wir hin? Das dürfen wir nicht« ich hörte die Angst in ihrer Stimme. Spürte Erinnerungen, wie sie die Wachen vom geöffneten Fenster in ihren Räumen zurückgezogen und in ihr Zimmer gesperrt hatten, bis ich Elisei davon überzeugen konnte, dass alles gut war. Obwohl sie erst so klein war, kannte sie die Konsequenzen von Ungehorsam.
Die Bilder in den Köpfen der Wachen flackerten erneut. Dieses Mal setzten sie sich in Bewegung. Ich fluchte innerlich auf und riss blindlings einige Seiten aus den Erinnerungsbüchern. Sie waren ausgenockt. Zumindest, bis wir uns in Sicherheit gebracht haben. Elisei tauchte zum Glück bereits hinter uns auf. Seine Gedanken waren ein einziges, schwarzes, wutverzerrtes Loch. Es waren immer noch seine Männer, die ich angegriffen habe. Ich verstand, dass ihn das wütend machte.
»Lacrima« schrie Ann und deutete auf die reglosen Grenzwachen. »Ich kontrolliere sie« brachte ich heraus und versuchte vergebens, die Bilder in ihrem Köpfen zu halten. Aber diese Männer kannten Manipulationen. Wussten, wie man dagegen vorging. »Das meinte ich nicht« riss mich ein aus meiner Konzentration. Die Bilder verschwanden.
»Dreh dich um« Ich spürte mindestens zehn Menschen hinter mir. Ich kniff die Augen zusammen und ließ mich von den Händen weiterziehen, während ich blindlings in ihren Erinnerungen wühlte, bis sich ihren Geist ausknockte.
»Mama, was tut ihr da?« Rief meine Tochter panisch und ich drückte nur ihre Hand. Ich wusste nicht mehr, ob meine Stimme halten würde. Die Männer, die uns nacheilten, fielen um, als hätten sich ihre Knochen in Wackelpudding verwandelt. Ich wusste nicht mehr, was ich tat oder wie ich es anging, aber jedes Bewusstsein, dass uns zu nahe kam griff ich an. Bombardierte ich solange, bis ich mir sicher war, dass es eine Zeit lang keinen klaren Gedanken fassen kann.
»Lacrima, es kommen immer mehr«, rief Ann. Mittlerweile stolperte ich ihnen nur mehr hinterher, da die Lichtpunkte der vielen Erinnerungen in meinem Kopf tanzten. Ich konnte beinahe nichts mehr sehen. »Elisei. Du bringst die drei in Sicherheit. Jetzt sofort« sagte ich und bemerkte, wie fremd meine Stimme klang. »Bring sie zu Anns Onkel. Ich komme nach« forderte ich und ich spürte Anns Geist aufschreien. Mit meinen letzten direkten Kraftreserven zwang ich ihr meinen Willen auf. Eliseis Wut nahm noch eine Spur zu, doch da sich Ann bereits in Bewegung setzte, rannte er ihr hinterher. Mit Sicherheit wird er mir nie verzeihen, was ich mit seinen Freunden gemacht hatte.
Sie rannten um ihr Leben, während ich zu Boden sank. Ich hörte rufe, fand aber nicht mehr die Kraft, sie auszuknocken. Ihre Körper auf Stand-by zu schalten. Deshalb riss ich wieder blindlings an Erinnerungen. Hoffte, das ich von jedem Soldaten etwas erwischte, denn mittlerweile war mein Sichtfeld grau-glitzernd, gesprenkelt mit einige schwarzen und weißen Punkten. Von der Umgebung konnte ich nur mehr Licht und Schatten wahrnahmen.
Bald verschwand das weiß und der Glitzer und alles wurde immer dunkler. Die Erinnerungen, die in meinem Kopf wirbelten, waren unglaublich viele. Ich würde hunderte von Büchern anlegen müssen, um diese Gedanken wieder loszuwerden. Erschöpft tastete ich um mich und versuchte zu erspüren, ob hier irgendwo ein Baum war, an den ich mich lehnen konnte.
Wir müssten die Grenzwälder bereits erreicht haben. Aber um mich herum war nichts als Waldboden. Steine, Erde, vereinzeltes Gras und Dreck. Trotzdem ließ ich mich auf die Seite sinken und starrte blind in die Richtung der Angreifer. Es kam mir so vor, als wäre der Strom versiegt. Ich konnte sie nicht mehr spüren.
Das bedeutete, ich konnte eine Pause machen.
»Ganz ruhig« ich blinzelte so oft und so schnell wie ich es konnte, aber ich war noch immer blind. Die helleren Lichtpunkte waren zurück und mir wurde schlecht. »Kannst du sprechen?« fragte ich jemand Fremder. Ich wollte auflachen und bejahen. Aber es kam kein Ton über meine Lippen. Nur jede Menge Gallensaft.
»Du hast so viele Erinnerungen in dich aufgenommen, dass sie deine eigenen Erinnerungen überdecken. Deshalb fällt es dir so schwer, zu sprechen und zu sehen« erklärte der Mann und ich versuchte vergebens die Stimme zuzuordnen. Aber alles das mir auf der Suche nach meinen Erinnerungen in den Weg kam, waren fremde Bilder. Verschiedene Soldaten die kämpften, weinende Frauen auf Begräbnissen, Sex mit Frauen, die ich nicht kannte, ... da war so viel Chaos in meinem Kopf.
»Ich werde dir eine Kristallkugel in die Hand geben, in Ordnung? Dann kannst du einen Teil der Erinnerungen ablassen« ich wusste, dass ich diesen Mann kannte. Alles in mir vibrierte, während er sprach. Trotzdem fühlte ich mich so geborgen wie seit Wochen nicht. Als ich das kalte Gestein an meinen Handflächen fühlte, war ich kurz ratlos. Wie man Erinnerungen zeigte, begriff ich, aber abgelassen hatte ich bisher noch nie etwas. »Zeig sie mir. Dann lass einfach los«
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Alle Bilder, die in meinem Kopf durcheinanderwirbelten, ließ ich in die Kristallkugel fließen. Es waren so viele, dass die einzelnen Details nur kurz in mein Auge sprangen. Die Lichtpunkte waren verschwunden. Anstelle sah ich ein Fotobuch, dass viel zu schnell durchgeblättert wurde. Mir wurde erneut schlecht.
Plötzlich zerbarst der Kristall in meinen Händen. Sofort kehrten die Lichtpunkte zurück. Ich tastete blindlings nach etwas, an dem ich mich festhalten könnte. Eine Erinnerung oder ein Gefühl. Aber da waren nur Bilder und ... Schmerz. »Bitte« brachte ich heraus und sofort legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich stöhnte auf und griff mit beiden Händen danach. Hoffte, dass sich das Chaos in meinem Kopf legen würde.
»Hörst du mich, Lacrima?«
Ich nickte schwach. Ich mochte nicht in der Lage sein vernünftig zu sprechen oder etwas zu sehen, aber meine Ohren funktionierten noch ausgezeichnet. »Sie ist wieder da. Sie kann uns hören«, rief jemand. Vielleicht funktionierten meine Ohren doch nicht so einwandfrei.
Jemand drückte mir erneut den kalten Stein in die Hand. Ich spürte mich selbst nicht mehr. War mir nicht mehr sicher, wo mein Geist hingekommen war. Obwohl ich meinen Körper spüren konnte, hatte ich keine Macht mehr über ihn. So sehr ich mich auch bemühte, ich wusste nicht mehr, wie ich mein Bein heben konnte. Oder ein Wort formen.
Im Laufe der nächsten halben Stunde wurden die Kristallkugeln immer wieder ausgetauscht. Ich schrie auf, als plötzlich Glasscherben auf mich niederregneten. Schmerz ... aber er war nicht fremd, sondern mein eigener. Vorsichtig öffnete ich die Augen und anstelle von Schwärze und Dunkelheit, war die wieder Licht. Zwar noch immer durchzogen von silbernen Sprenkeln und glänzten Punkten, aber die Dunkelheit war verschwunden. Jemand legte eine Hand auf meine Schulter und ich seufzte leise auf. Wärme ... menschliche Wärme. Unbewusst schmiegte ich mich enger an die Berührungen. Keinen Moment später war ich eingeschlafen.

Weil du mir gehörstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt