Kapitel 3

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Der an der Hütte hochgewachsene Efeu war abgestorben, so wie jede andere Pflanze hier. Die dunkle Holztür knarrte, als Faith sie öffnete, um Kilian hereinzulassen. Dieser schritt zaghaft an ihr vorbei ins kahl eingerichtete Innere. Die Hütte war klein, gerade groß genug, damit zwei Betten, ein kleiner Kamin und ein mit zwei Stühlen bestückter Tisch, auf dem Töpfe, Teller, Schüsseln und Lebensmittel lagen, herein passten. Unter dem Tisch standen einige zusammengeschobene Regale, in denen Kilian in der Dunkelheit nicht viel erkennen konnte. Insgesamt wirkte das Holzhäuschen lieblos und einengend, doch etwas anderes sollte man im Land der Finsternis nicht erwarten. Denn es gab hier nicht vieles, mit dem man ein gemütliches Heim bauen konnte.

„Ich werde jetzt Ylvi suchen gehen, solange werden Sie hier warten müssen. Am besten legen Sie sich einfach schlafen, es könnte eine Weile dauern, bis ich zurück komme", äußerte Faith fast schon sanft und wollte Kilian alleine lassen, doch ihr viel noch etwas ein: „Es ist eiskalt, also zünde ich dir lieber noch den Kamin an."
„Das ist nicht nötig, das kann ich auch selber ...", setzte Kilian an zu sagen, doch Faith unterbrach ihn. „Ich rette niemanden vor dem Tod durch diese Bestien, nur um ihn dann unter meinem Dach erfrieren zu lassen", während sie dies erwiderte, schnipste sie einmal.
Daraufhin tanzte plötzlich eine helle Flamme fröhlich im Kamin, weshalb der Prinz verwundert zu Faith sah, auf deren Gesicht ein mildes Lächeln lag. Auf seinen Blick hin meinte sie: „Frag nicht, ich muss jetzt los."
Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter sich und verschwand ihre Freundin suchend im finsteren Wald.

Lautlos schlich Faith Ylvi suchend durch den Wald, in der Hoffnung, heute keinem Umbra oder Skugga mehr zu begegnen. Der Kampf gegen die Pagriser war Faith genug Aufregung für einen Dinoci. Zwar könnte sie die Bestien noch problemlos besiegen, aber Faith wollte nur noch Ylvi finden und die gestohlenen Vorräte, welche sie in der Eile verloren hatte, holen. Dann könnte sie in der Wärme ihrer Hütte endlich etwas Entspannung finden, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie dies mit ihrem Gast wirklich konnte. Allerdings sollte Faith vorerst Ylvi finden, denn ihre kleine Freundin konnte sich nicht alleine verteidigen, ohne sich dabei in selbst zu verletzen. Der Umgang mit Pfeil und Bogen war ihr vertraut, aber ihre kleine Wölfin war zu gutherzig, um ein Lebewesen damit zu verletzen, wenn es nicht lebensnotwendig war. Man konnte bei Skuggas und den meisten Umbras eigentlich nicht mehr von Lebewesen sprechen, weil der Schatten ihnen das Leben regelrecht wie ein Vampir seinen Opfern das Blut ausgesaugt hatte, aber Ylvi sah die Bestien noch immer als Lebewesen an. Faith hatte für diese Sicht auch vollstes Verständnis, schließlich war Ylvi diesen Kreaturen ähnlicher, als man im ersten Moment dachte.

„Wo bist du nur, Ylvi?", murmelte Faith verzweifelt vor sich hin und raufte sich ihre weiße Mähne, als sie auch nach einer dreißigminütigen Suche ihre Freundin nicht fand. Sogar diesen bedeutungslosen Leinensack hatte sie gefunden, doch ihre Schwester blieb verschollen. Faith verfluchte sich innerlich dafür, in diesem Land Zuflucht gesucht zu haben, obwohl sie hier doch eigentlich verloren war ohne die Hilfe der Natur. Wie sollte sie Ylvi auch finden, wenn diese sich in ihrer Panik so versteckt hatte, dass nicht einmal die Pagriser sie hätten finden können. So irrte Faith weiter durch den toten Wald und mit jedem Schritt, mit dem sie Ylvi nicht fand, verlor die junge Frau immer mehr ihre Hoffnung.

Anscheinend hatte die Welt dann doch noch Mitleid mit Faith, denn als sie schließlich hoffnungslos zwischen den Bäumen stehen blieb, traf sie plötzlich ein Windhauch, der das Geräusch des leisen Atmens ihrer Freundin zu ihr herüber trug. Diesem folgend entfachte der letzte übrig gebliebene Hoffnungsfunken ein loderndes Feuer in ihr, welches Faith immer weiter voran trieb. Ihre immer schneller werdenden Schritte dröhnten durch den Wald. Ihr war egal, dass dieses Geräusch die Bestien anlocken könnte. Sie blendete einfach alles aus. In ihrem Kopf herrschte nur noch ein Gedanke.
Finde Ylvi.
Alles andere rückte in den Hintergrund, verlor für einen Moment die Bedeutung.

Sie wusste nicht, ob Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergangen waren, bis sie Ylvi fand, doch das war ihr gleichgültig. Sie hatte Ylvi gefunden, versteckt in einer schmalen Felsspalte, welche selbst für eine Frau mit Faith zarter Statur schwer zu betreten war. Nun hockten die beiden Frauen sich umarmend in der winzigen hinter dem Felsspalt gelegenen Höhle und weinten vor Erleichterung. Erleichterung, den jeweils anderen unversehrt wieder zu sehen. Erleichterung darüber, den anderen endlich wieder in den Armen halten und die damit verbundene Geborgenheit spüren zu können. „Es geht dir gut. Dem Himmel sei Dank, es geht dir gut", wimmerte Faith in Ylvis Ohr und spürte die heißen Tränen über ihr Gesicht laufen. Auch von Ylvi vernahm sie leises Schluchzen und spürte die ihren Umhang an der Schulter durchnässenden Tränen.

Dieser Moment der unbesorgten Zweisamkeit hielt nicht lange. Ein dunkles Knurren drang an Faith Ohr. Ein Knurren, wie es nur von einem Skugga stammen konnte. Behutsam löste sie sich von Ylvi, welche bei dem Laut auf der Stelle erstarrt war, und drehte sich umständlich zum Höhlenausgang, um nach draußen zu gelangen. Dabei kratzte Faith ihre Haut an der scharfkantigen Steinwand auf, aber das war ihr egal. Bevor sie aus der Höhle kroch, fragte sie die am Eingang neben ihr kniende und aus der Höhle blickende Ylvi: „Was sind das für Skugga, mein Wölfchen?"
Diese raunte zittrig: „Drei. Ein Rudel von drei Noctalupa."
Alarmiert fasste Faith nach Ylvis Arm und bestimmte: „Du bleibst hier, ohne Widerrede. Du kannst ihnen nicht mehr helfen, dafür ist es schon lange zu spät."

Dann sprang sie raus, ihr Katana in der Hand. Ich hasse ab heute die Zahl drei. Die bringt mir nichts als Ärger, dachte Faith sich und konzentrierte sich dann wieder auf die Schwingungen der Luft und die Geräusche. Die schweren Schritte der Bestien verrieten ihr, wo sie sich aufhielten. Die Luftschwingungen verrieten ihr die Bewegungen. Immer weiter lockte die Kämpferin die mutierten Wölfe von ihrer Freundin weg.
Ihrer Schwester, ihrem Stern, ihrem Lebenssinn.
Sie versank vollends in ihrem Element, wehrte die Angriffe ab, wich aus und trieb die toten Wölfe immer weiter zusammen. Faith wartete nur noch auf den perfekten Augenblick. Sollte sie zu früh oder verspätet ihren letzten Angriff starten, würde diese Aktion als ein Selbstmordkommando enden. Dieses Risiko wollte Faith auf keinen Fall eingehen, also wartete sie hochkonzentriert ab.

Als die Noctalupa endlich alle nahe genug aneinander standen, riss sie ihre rechte Hand blitzschnell auf ihre linke Seite und stieß ihre linke Hand in Richtung der Noctalupa. Durch diese simplen Bewegungen verdichtete sie die Luft innerhalb einer Millisekunde zu einer Klinge, mit der sie die Herzen der Wölfe kaltblütig durchbohrte. Ihr war klar, dass die Skugga dadurch nur vorerst ausgeschaltet sein würden. Deshalb stellte sie sich vor, wie deren Körper verbrannten, woraufhin sie in hellen Flammen aufloderten.

Der beißende Geruch verbrannten Fleisches lag in der Luft, als Faith wieder an den Felsspalt trat. Der Fakt, dass Ylvi gerade weinte, weil Faith diese Wesen getötet hatte, brach ihr das Herz, doch Faith wusste auch, dass sie beide gestorben wären, wenn sie dies nicht getan hätte. „Komm, Ylvi, wir müssen weiter", informiert Faith Ylvi, welche den Leinensack hinter sich herziehend aus der Höhle kroch und dann auf sie zukam.
Von Ylvis sonst so selbstbewusster Haltung fehlte jede Spur, sie sah gebrochen aus, wie sie mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern zu Faith trat.
„Wieso ist die Welt grausam?", murmelte Ylvi getroffen.
Aber Faith wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, wie sie einem Kind erklären sollte, dass sie in einer grausamen Welt lebten, in der man für sein Überleben über Leichen gehen musste. Also schwieg Faith, senkte ihren Kopf, damit das Mädchen vor ihr nicht sah, dass auch sie diese Welt so nicht akzeptieren konnte. Nein, sie nicht akzeptieren wollte. Die junge Frau wusste nur noch nicht, wie sie diese Welt retten konnte.

Blind - Decline of the ShadowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt