Kapitel 10

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Faith und Vincent schlenderten nebeneinander her, ihr Arm bei ihm untergehakt, so dass er sie führen konnte. Faith fühlte sich aber unwohl, weil sie sich an nichts orientieren konnte. Sie hörte keine nicht von ihnen ausgehenden Geräusche und nahm auch keine auffälligen Gerüche wahr. Um sich abzulenken, sprach sie ihren besten Freund wieder an: „Existiert der schwebende Garten noch?"
Aus dem Konzept gebracht, unterbrach er sein Vorangehen für einen winzigen Moment, doch fing er sich schnell. „Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, diesen Ort voller Erinnerungen an dich nach deinem angeblichen Tod einfach zu zerstören. Aber konnte auch nicht zulassen, dass jemand diesen Ort betritt. Ich habe gefürchtet, dass die Erinnerungen dann verschwimmen würden. Seit der Verkündung deines Todes ist es verboten, diesen Teil des Schlosses zu betreten."
Diese Aussage sollte Faith wahrscheinlich verwirren, doch man könnte sagen, dass sie Vincent auswendig kannte. Seine nach außen präsentierte Stärke, welche eigentlich nur eine seine Sensibilität verbergende Maske war. Sein ganzer Ruf war ein großes Schauspiel, mit dem die Nordlande, Ignis und Caeleo getäuscht wurden.
„Darfst du dieses Verbot überhaupt aussprechen? Der Palast gehört doch dem Oberreichsrat, oder nicht? Wo wir gerade bei dem Thema sind, wie lange wollt ihr die anderen Königreiche noch täuschen?" Ihr Versuch, mehr über die derzeitige politische Lage herauszufinden, stieß bei Vincent auf Eis.

Er war dieses Thema leid, denn auch er selbst wollte, dass dieses Land zu seinem System stand. Der Rest des Oberreichsrates dachte jedoch, dass die anderen Königreiche aus Missbilligung gegenüber diesem System einen gemeinsamen Angriff starten könnten. Dabei vergaßen sie, dass Ignis und Caeleo zu viel Respekt und teilweise auch Angst vor den Nordlanden hatten, da dort viel besser ausgebildete Kämpfer lebten als in ihren eigenen Reichen.

„Vincent, es wäre durchaus von Vorteil, wenn auch dein Geist in mir bekannten Gefilden bleibt, solange du mich durch ein mir unbekanntes Labyrinth führst. Ich möchte ungern ein weiteres Mal verschollen gehen", scherzte Faith, um Vincent aus seinen Gedanken zu reißen.
Dieser lachte dadurch rau auf und bescherte Faith somit einen angenehmen Schauer. Es verwirrte die Kämpferin, dass sie so eigenartig auf ihren besten Freund reagierte, doch schob sie jegliche Gedanken daran erst einmal an die Seite. Dass Vincents Antwort ausblieb, rutschte auch schnell in den Hintergrund, als der angebliche König hinter sie trat, um in ihr Ohr raunen zu können: „Wir sind da, mein Mondschein."
Bei der Erwähnung ihres alten Kosenamens legte sich ein verträumter Ausdruck auf ihr Gesicht und lang vergangene Erinnerungen kamen in ihr auf.
Wie Vincent sie weit nach der Dinociswende auf dem Dach des Palasts in Caeleo erwischt hatte, während Faith einfach die nächtliche Stille genossen hatte. Damals war sie nur mickrige fünf Yael und hatte den sie stets neckenden Prinzen nicht ausstehen können. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie bei einem Probekampf besiegen können, auch wenn es ihm schwer gefallen war. Allerdings war die Prinzessin zu dieser Zeit noch sehr unkonzentriert und hinzu kam, dass Vincent drei Yael älter war. Jedenfalls hatte der Prinz ihr nach einigen Dicemdies, in denen er Faith immer wieder nachts auf dem Dach aufgefunden hatte, den Namen mein Mondschein gegeben. Während seines Aufenthalts hatte sie diesen Jungen aber irgendwie in ihr Herz geschlossen. Nachdem er schließlich sogar begonnen hatte, mit ihr zu trainieren und sie gegenüber Anderer zu verteidigen, hatte sie ihn offiziell zu ihrem besten Freund auf Lebenszeit ernannt.

 „Woran denkst du?", äußerte Vincent interessiert, worauf Faith nur lächelnd reagierte.
„An früher. Damals war alles noch so unkompliziert. Heute verstehe ich mich manchmal nicht einmal selbst."
Faith wollte ihrem Drang, sich an Vincents Brust zu lehnen, nicht nachgeben, doch sie konnte sich nicht gegen diese verführerische Wärme seines Körpers wehren. Als sie sich ihrem Verlangen nachgebend an Vincent kuschelte, machte sich in ihrem Herzen eine Ruhe breit. Geborgenheit breitete sich in ihr aus und Faith schloss genießerisch die Augen, obwohl dies keinen Unterschied machte. Wie selbstverständlich legte Vincent seine Arme um ihre Hüfte und zog sie noch ein wenig enger an sich heran. „Ich habe immer wieder versucht, dir mitzuteilen, dass ich noch am Leben bin", wisperte Faith mit einer Dringlichkeit in das entstandene Schweigen, welche Vincent von der jungen Frau nicht gewohnt war.
„Ich wollte dich nicht leidend wissen, doch egal wie oft ich es auf jede erdenkliche Weise versucht habe, immer hat jemand die Nachrichten abgefangen."
Ihr gequälter Ton verletzte Vincent. Er konnte verstehen, wie schuldig und hilflos die junge Frau sich fühlte. Deshalb redete er mit beruhigender Stimme auf sie ein: „Es ist nicht schlimm, Faith. Nicht du bist daran Schuld, okay? Alles was zählt, ist, dass du jetzt wieder bei mir bist. Du bist zu mir gekommen, nichts anderes ist von Bedeutung. Ich könnte dir niemals böse sein."
Gerührt erwiderte sie fast tonlos: „Danke!" In dieser einfachen Aussage schwangen so viele Gefühle mit, die Faith nicht anders ausdrücken konnte. Sie wollte so viel mehr sagen, doch das brauchte sie nicht. Vincent verstand sie auch ohne Worte.

In der Zwischenzeit waren Ylvi und Kilian in dem Wintergarten angekommen. Der sich ihnen bietende Anblick ließ sie staunen. Die Wände des weitläufigen Gartens bestanden aus klarem Eis, welches trotz des wärmenden Sonnenlichts nicht schmolz. Überall wuchsen die verschiedensten Pflanzen, von Zier- und Obstbäumen, in welchen bunte, Lieder trällernde Vögel nisteten, bis zu den schönsten Blumen, die der Prinz und die Wölfin je gesehen hatten. Besonders die in allen möglichen Farben auftretenden Rosen stachen einem ins Auge, da sie die fein geschwungenen, mit weißem Marmor gepflasterten Wege begrenzten. Ein schmaler, wahrscheinlich mit Magie angelegter Bach plätscherte fröhlich vor sich hin und endete schlussendlich in einem klaren Teich im Zentrum des Wintergartens.
Über drei filigrane mit Magie aus Eis geschaffene Brücken erreichte man einen kleinen Eispavillon, der über dem klaren Wasser zu schweben schien. Dieser bot einem die Möglichkeit, es sich auf einigen einladenden Decken und Kissen, die in mehreren Lagen auf dem Boden drapiert waren, bequem zu machen und die entspannende Atmosphäre zu genießen. Des Weiteren fand man in dem Pavillon einen schwarzen Flügel, der in dem Licht genau so wie der Pavillon mit seinen Brücken märchenhaft funkelte.

Blind - Decline of the ShadowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt