Kapitel 8

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„Wieso ist es hier so warm? Es sollte doch eigentlich alles eingefroren sein", erkundigte Kilian sich verwundert.
Sie waren noch einige Stunden weitergegangen, bis schließlich der Dinoci der Nacht die Führung überließ. Dabei waren sie an einigen kleinen Siedlungen vorbeigekommen und hatten mit einigen Pagrisern gesprochen, die ihnen den Weg in die Hauptstadt erklärt hatten.

Jetzt hatten sie allerdings beschlossen, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Um ein Lagerfeuer zu machen, suchte Ylvi mit Kilian nun also Holz. Bisher herrschte dabei eine harmonische Stille, sie verständigten sich ohne Worte, als hätten sie ihr Leben lang noch nichts Anderes getan. Die Frage warf Ylvi somit erst einmal aus der Bahn, doch dann sah sie ihn an und setzte zu einer Erklärung an, vor der sie ihn aber noch kurz aufzog: „Der ach so perfekte Prinz fragt das Waisenmädchen? Hilfe, ein Skandal! Okay, nein, Spaß bei Seite. Wir befinden uns in der südlichsten Region des Landes, weshalb es hier so warm ist. Du solltest wissen, dieser Teil des Landes gehörte zu Ignis, bevor der Schatten ausbrach. Aber nachdem das Land der Finsternis zwischen dieser Region und dem Königreich lag, überließ Ignis dieses Gebiet einfach den Nordlanden, da ihnen die Durchreise zu gefährlich schien."
Nach einer kurzen Pause setzte sie noch ein wenig eingebildet hinterher: „Es ist übrigens nur ein Märchen für Kinder, dass in den Nordlanden immer Schnee liegt. Auch wenn die meisten Häuser zu großen Teilen aus Eis erbaut wurden, ist es sogar angenehm warm hier."

Nachdenklich und ein wenig beleidigt sah Kilian in den dunkler werdenden Himmel. Immer mehr dunkelgraue Wolken zogen auf und versteckten das Sternenzelt hinter sich. „Wir sollten zurück zu Faith gehen", verkündete Ylvi, als sie Kilians Blick folgte.
In ihrem Augenwinkel konnte sie ein leichtes Nicken seinerseits sehen. Also drehte sie sich wieder um und eilte mit dem Prinzen hinter sich zu dem Lagerplatz. „Wieso nennt Faith dich eigentlich so oft Wölfchen?", wollte Kilian wissen, kurz bevor sie bei Faith ankamen.
Ylvi spürte seinen interessierten Blick in ihrem Rücken, jedoch wollte sie nicht antworten. Dieses Thema ging einen Fremden nichts an, beschloss Ylvi.
Doch war Kilian überhaupt noch ein Fremder? Sie reisten schon eine Weile gemeinsam durch das Land, sie wusste genau, wer er war und Ylvi kannte ihn relativ gut. Doch reichte das aus, um ihm über ihre Vergangenheit zu erzählen?
„Weißt du, vielleicht werde ich dir das irgendwann später einmal erklären, aber noch ist es dafür zu früh", schob sie es am Ende weiter auf.
 Bevor Kilian zu einer Erwiderung ansetzen konnte, kamen sie auch schon bei Faith an.

Staunend betrachteten die Neuankömmlinge die Hütte, welche bei deren Aufbruch noch nicht dort gestanden hatte. Mitten auf der Wiese erhob sich ein kleines Haus aus Erde, auf dessen Dach Gras und Moos wuchsen. Kleine Fenster und eine Tür aus Eis reflektierten das schwache durch die Wolkendecke brechende Mondlicht. Beiden fielen die gesammelten Äste aus den Händen. „Was?", stieß Kilian nur dümmlich hervor, doch Faith schnappte sich nur seinen Ausruf ignorierend von jedem einen Arm und zog sie in die Hütte.
„Endlich seit ihr wieder da. Ich war so frei, uns in der Zeit eurer Abwesenheit einen Unterschlupf zu bauen. Er ist zwar etwas notdürftig eingerichtet, aber sollte für eine Nacht ausreichen", redete die junge Frau voller Energie vor sich hin, ihre Schritte glichen eher kleinen Hüpfern.
„Das sieht mehr so aus, als würdest du hier für ein paar Dicemdies unterkommen wollen", gab Ylvi ihre Meinung preis.

Sie war verzaubert von der Behaglichkeit der Hütte. An der rechten Wand waren unter zwei Eisfenstern drei mit Moos gepolsterte Nachtlager. An allen Wänden rankten sich Pflanzen herauf, auf deren Blüten winzige Flammen tanzten, ohne sie zu verbrennen. „Wie erschaffst du immer solch einladende Orte, obwohl du blind bist?", flüsterte Ylvi, doch Faith ging nicht darauf ein.

„Wir sollten uns hinlegen, wir müssen noch vor dem Sonnenaufgang aufbrechen, um Marum noch morgen zu erreichen", legte Faith fest, nachdem sie bemerkt hatte, dass von keinem mehr etwas kommen würde.
Ohne sich noch weiter zu unterhalten, legten sich alle schlafen und Faith löschte schon im Halbschlaf das Licht. Dann fiel auch sie in einen traumlosen Schlaf. 

Am nächsten morgen brachen sie wie besprochen in aller Frühe auf. Den ganzen Dinoci wanderten sie pausenlos durch die Nordlande und konnten beobachten, wie die grünen Wiesen den verschneiten Nadelwäldern wichen. Immer wieder trafen sie auf kleine Gruppen von Wassermagiern, die sie misstrauisch beäugten. Doch zu ihrer Freude kamen sie ohne besondere Vorkommnisse vor den Toren Marums an. Die unterschiedlichsten Eindrücke dröhnten Faith aus der Stadt entgegen, weshalb sie gequält die Augen schloss, um sich an den Geräuschpegel zu gewöhnen.

Sie traten immer weiter auf die Stadttore zu, Faith an ihrer Spitze, jederzeit bereit, ihre Freunde zu schützen. Eine Stimme hielt die Gruppe auf, bevor sie durch die Tore schreiten konnte. „Wer seid ihr?", knurrte einer der Wächter abwertend.
Den Grund konnte Faith sich denken, denn in diesem Reich lebten nur Wassermagier, die sich durch eine mit Saphiren besetzte Kette auch offen als solche zuerkennen gaben. Wer kein Wassermagier war, wurde von den meisten Pagrisern verachtet, denn diese dachten, sie wären die Stärksten. Als Faith gerade zu einer bissigen Bemerkung ansetzen wollte, stieß Ylvi sie unauffällig von hinten an und Kilian ergriff diplomatisch das Wort: „Wenn ich mich vorstellen dürfte, ich bin Prinz Kilian von Ignis und habe eine Audienz bei dem König."

Die Wächter betrachteten ihn und die beiden Mädchen kritisch. Dann drehte der, der eben gesprochen hatte, sich zu seinem Kollegen und dieser schien seinen Blick genau deuten zu können. Er beugte sich über eine lila-schimmernde flache Schüssel, die mit Wasser gefüllt war und begann, einige unverständliche Sätze zu murmeln. Ylvi und Kilian konnten nicht erkennen, was dort passierte, doch Faith wusste sofort, was dort geschah.
Man könnte es als eine Art Kommunikation zwischen mehreren Personen bezeichnen. Dabei waren mehrere dieser Wassergefäße über hauchdünne Röhren verbunden und übertrugen durch verschiedene Schwingungen des Wassers Signale. Dies war eine sehr alte Technik, die vor hunderten von Yael von jedem Volk genutzt wurde. Theoretisch würde diese Technik mit fast allen Elementen funktionieren, doch mit der Zeit wurden einfachere Systeme erfunden.
Es überraschte Faith deshalb sehr, dass man in Marum noch nach diesem System arbeitete. Doch Faith konnte daraus einen Vorteil ziehen, denn sie konnte all diese Schwingungen entziffern. In ihrer Kindheit hatte sie sich oft mit den verschiedensten Codes dieser Sprache auseinander gesetzt, nur um ihre Langeweile zu vertreiben. Angespannt horchte sie also, ob sich für ihre Gruppe eine Gefahr ergab, doch atmete sie erleichtert auf, als von dem König persönlich der Befehl kam, sie ohne Verzögerung zu ihm zu führen.

„Bring sie in den Palast", befahl der Wachmann einem anderen, der ihnen daraufhin nur kurz angebunden zunickte und sofort los eilte.

Faith achtete nicht groß auf den Weg, sondern ließ sich von ihrer kleinen Wölfin führen, so dass sie sich auf die vielen sich ihr bietenden Eindrücke konzentrieren konnte. Die junge Frau roch das frische, warme Brot, die verschiedensten Früchte und Blumen. Sie hörte die brüllenden Händler, die versuchten ihre Waren zu verkaufen, und lachende Frauen, die sich über den neusten Klatsch austauschten, während ihre Kinder glücklich lachend um ihre Füße sprangen. Faith nahm die donnernden Hufe vorbei eilender Pferde wahr und die dumpfen Schritte der Menschen. Obwohl Faith schon oft in den Nordlanden Märkte besucht hatte, hielt dieser immer wieder Überraschungen für sie parat.

Als sie sich dem Palast näherten, wurden die Geräusche immer leiser und als sie in den Palast eintraten, verstummten sie vollkommen. Man hörte nur noch die vom Boden gedämpften Schritte und ihr leises Atmen. Angespannt setzten sie ihren Weg fort, bis sie schließlich stehen blieben. Der Bote lief sofort weiter, während ein dumpfes Klopfen ertönte. Dann wurden die Türen fast lautlos geöffnet. „Prinz Kilian von Ignis und seine Gefolgschaft!", wurde lautstark verkündet, bevor die Gruppe eintrat und durch den Thronsaal schritt.
Vor der Thronempore angekommen, verbeugte sich Kilian und Ylvi knickste. Faith hingegen stellte sich nur gerade hin und starrte in die Richtung von Vincents Herzschlag. Ein ernster Ausdruck verdunkelte ihr Gesicht, als schmerzhafte Erinnerungen durch das bekannte Gesicht wieder an die Oberfläche drangen. „Es ist lange her", äußerte sie monoton.
Viele der Anwesenden zogen scharf die Luft ein. Manche aus Empörung über ihr unhöfliches Verhalten oder aus Verwirrung der Situation wegen. Andere jedoch erkannten die Frau, die dort mit stolz erhobenem Haupt vor dem König stand.

Blind - Decline of the ShadowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt