Die Sonne ging grade erst über Lasanta auf, als Lucien das Ordenshaus erreichte. Ohne sich anzukündigen, sprang er erneut über den niedrigen Gartenzaun, der das Grundstück umgab. Um diese Zeit war wohl kaum schon jemand wach und die Fenster des Prunkbaus waren dunkel. Alle, bis auf eines am Westende des Komplexes. Eine einzelne Kerze sorgte für Licht, das nun schon mit dem rosigen Schimmer der Morgendämmerung konkurrierte. Lucien legte einen Bolzen in die Armbrust. Nicht, das er Tyrus nicht trauen würde... der Mann und er standen auf der gleichen Seite. Aber Zauberer blieben Zauberer.
Er erreichte das Fenster. Wie er gehofft hatte, stand es einen kleinen Spalt breit offen. Lucien griff nach dem Sims davor und zog sich hinauf. Sobald er in den Raum sehen konnte, hielt er jedoch inne. Es war der Raum, der Tyrus als Arbeitszimmer diente. Der oberste Zauberer des Sangius-Ordens saß in einem Lehnstuhl am Fenster, praktisch direkt unter Luciens zweifelhaftem Versteck. Aber der Mann war nicht alleine. Eine weitere Person stand vor dem schweren Tisch, der die Rückwand der Kammer einnahm. Sie trug einen bodenlangen schwarzen Mantel und trug eine Kapuze unter deren Schatten ihre Züge nicht zu erkennen waren.
„Habt Ihr verstanden, worauf ich hinaus will? Wenn die Dinge sich weiter so entwickeln wie bisher, dann könnten sie schon in ein paar Jahren aus dem Ruder laufen."
„Das ist mir durchaus klar... Aber wir reden hier auch von Kellvians Schicksal... und nur weil Ihr hier auftaucht, mit Euren Befürchtungen, werde ich dem Jungen ganz sicher nichts zuleide tun."
„Ihr werdet vielleicht keine Wahl haben.", meinte der Fremde.
„Hinaus!" Tyrus war von seinem Platz aufgesprungen und deutete in Richtung Tür. „Mir ist gleich, was Ihr seid, Kreatur, aber wenn Ihr nicht sofort meine Räume verlasst, werdet Ihr herausfinden, was Schmerzen sind."
„Wie Ihr wünscht... oberster Zauberer." Der Mann machte eine angedeutete Verbeugung und Lucien war sich fast sicher, das auf dem verhüllten Gesicht jetzt so etwas wie ein höhnisches Lächeln stehen musste. „Ihr werdet die Wahrheit schon noch erkennen." Der Fremde drehte sich um und ein blauer Blitz erhellte kurz den Raum. Als Lucien wieder etwas erkennen konnte, war die schwarz gekleidete Gestalt verschwunden. Nur der durch den Zauber veränderte Luftdruck machte sich noch bemerkbar.
Der kaiserliche Agent wollte sich grade zurück ziehen, als Tyrus sich zum Fenster umdrehte.
„Kommt schon rein Lucien, ich habe euch längst gehört."
Er öffnete das Fenster und der Spion sprang in den Raum.
„Könnt Ihr eigentlich nicht einfach die Tür verwenden wie jeder andere normale Mensch auch?"
„Schon, aber das wäre ja langweilig.", erklärte Lucien. „Wer war das eben?"
Tyrus Mine verdüsterte sich.
„Jemand der Euch nichts angeht... und jemand dem ich nicht traue. Ihr erfahrt mehr sollte ich gegen ihn vorgehen müssen. Aber für den Augenblick... habt ihr die Dokumente beschafft?"
Der Agent nickte und zog den Pergamentbogen mit den abgepausten Schriftzeichen aus seiner Tasche.
„Da habt ihr eure Schriftrolle. Ich hoffe nur wirklich... das ist es wert."
Tyrus nahm ihm das Papier ab. „
„Fest steht, Ihr habt uns einen großen Dienst damit erwiesen..." er überflog die Zeilen. „Wie ich mir dachte. Es sind tatsächlich die Abschriften, die die Windrufer-Expedition bekommen hat... ich war einer der letzten, der die Originaltafeln gesehen hat, noch bevor ich erster Zauberer wurde. Mittlerweile sind sie wohl zerstört. Aber das hier... ist fast genauso gut. Der zentrale Satz gibt mehr oder weniger genau an, wo die Insel zu finden ist. Und mit ihr... eine ganze Stadt des alten Volks."
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Eden
FantasyNachdem sie grade der Sklaverei entkommen ist und dabei unfreiwillig den jüngsten Spross einer mächtigen Adelsfamilie entführt hat, findet sich Eden nach einigen Wirren in der Crew des grausamen und berüchtigten Piratenkapitäns Vance Livsey wieder...