• Twenty Two •

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"Ich werde María keine Nachhilfe mehr geben, wenn es dich stört", sagt Teo zu mir, als wir am nächsten Morgen zusammen zur Schule laufen.
Es ist ein schöner Tag, die Vögel zwitschern in den Bäumen, die Nachbarn grüßen uns, wenn wir vorbeigehen.
"In Küssen, oder was genau meinst du jetzt?", erwidere ich.
Ich habe nun eine Nacht drüber geschlafen und ja, ich habe das Bild immer noch im Kopf, sobald ich Teo ansehe. Es gibt wohl nur eine Möglichkeit, wieder zur Normalität zurückzukehren: darüber zu reden. So schwer es mir auch fällt.
Teo ist so geschockt von meinen Worten, dass er für den Bruchteil einer Sekunde über seine eigenen Füße stolpert und mit blassem Gesicht stehen bleibt. Ich tue es ihm gleich und bleibe auch stehen.
"Ich wusste nicht, dass du... Ich dachte...", stammelt Teo unbeholfen und findet offensichtlich die richtigen Worte nicht.
"Dass ich euch gesehen habe?", helfe ich ihm auf die Sprünge. "Habe ich."
Ich zucke mit den Schultern und laufe weiter. Wenig später höre ich Teos Schritte ebenfalls hinter mir.
"Es tut mir leid, Milo. Wirklich. Ich weiß, sie ist deine Schwester, aber du kannst mir glauben, ich würde ihr nie mit Absicht wehtun."
Diesmal bin ich es, der stehen bleibt. Es ist so abrupt, dass Teo mir fast in die Hacken läuft.
"Du glaubst, dass ich deswegen...?" Ich lasse den Satz offen in der Luft hängen, denn ich habe keine Ahnung, wie ich ihn beenden soll. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Das war dumm.
"Weswegen denn sonst?", fragt Teo und etwas in seinem Blick jagt mir einen Schauder den Rücken hinunter. Ist es das, was María an ihm begehrt? Dass er einen mit seinem Blick Dinge spüren lassen kann, die man selbst nicht erklären kann?
"Wir kommen zu spät", sage ich bloß und laufe weiter.
"Stell dir das doch nur mal vor", redet Teo, während er versucht, mich einzuholen. Wir sind fast an der Schule angekommen. "Stell dir mal vor, ich würde María eines Tages heiraten. Dann wären wir eine Familie. Du wärst der Onkel meiner Kinder, und ich wäre der Onkel deiner Kinder. Wir könnten für immer zusammensein."
Eine Familie. Bei dem Wort dreht sich mein Magen um.
Ich bin froh, dass ich darauf nichts erwidern muss, denn wir betreten den Schulhof und ich sehe Óscar, wie er sein Fahrrad an einen dicken Baumstamm lehnt.
Als hätte er meine Ankunft gespürt, dreht er sich plötzlich um und schaut in meine Richtung. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf seine Lippen und seine Augen glitzern im Sonnenlicht. Ich erwische mich selbst dabei, wie ich lächeln muss. Im Augenwinkel sehe ich, wie Teo seine Augen verdreht.
"Ich geh schon mal vor", murmelt er und verschwindet ohne ein weiteres Wort die Stufen hinauf ins Schulgebäude.
Das ist nichts Neues, aber trotzdem mag ich es nicht, ohne Teo in den Unterricht zu gehen.
"Er mag mich immer noch nicht, oder?", fragt Óscar, als wir zusammen die Treppenstufen erklimmen. In seinen bleistiftverschmierten Händen hält er sein Skizzenbuch.
Ich hebe einen Mundwinkel. "Du magst ihn auch nicht."
"Aber ich habe einen Grund, ihn nicht zu mögen. Er nicht."
"Vielleicht ist der Grund ja, dass du ihn nicht magst?"
"Du meinst, er mag mich nur nicht, weil ich ihn nicht mag?", erwidert Óscar und rümpft dabei die Nase. Ich muss bei der Geste lächeln. Ich mag es, wenn er das tut. Es ist irgendwie... süß.
Ich zucke als Antwort mit den Schultern. Ich weiß, dass das nicht der Grund ist, warum Teo ihn nicht mag. Aber den genauen Grund kenne ich auch nicht.
"Possible", zuckt Óscar mit den Schultern. Er bringt mich noch bis zu der Tür, hinter der ich gleich Unterricht haben würde. Mir ist vorher nie aufgefallen, dass er meinen Stundenplan auswendig kann. Ich bewundere ihn dafür.
"Emi?", fragt Óscar plötzlich nervös, gerade als ich in den Raum gehen will. Ich drehe mich um. Óscar steht vor mir und reibt sich in einer nervösen Geste den Nacken.
"Was?", frage ich irritiert und leicht besorgt. So habe ich ihn selten erlebt.
Es scheint Óscar ein großes Maß an Überwindung zu kosten, seine nächsten Worte auszusprechen. Ich runzle besorgt die Stirn und will gerade etwas sagen, doch er kommt mir zuvor.
"Mariposa", schießt es aus ihm heraus, als könne er das Wort nicht schnell genug loswerden. Seine Hände verkrampfen sich um sein Skizzenbuch, seine Haut verfärbt sich weiß. Nur seine Wangen bleiben knallrot.
"Schmetterling?", wiederhole ich verwirrt.
Óscar schluckt und wischt sich in einer ungeduldigen Bewegung die Haare von der Stirn. „No. Soy una mariposa, Emiliano."
Ich blinzle perplex. Aber bevor ich nachhaken kann, klingelt es plötzlich und Óscar ist schneller verschwunden, als ich gucken kann.
Soy una mariposa.
Ich bin ein Schmetterling.
Was hatte Óscar mir sagen wollen? Da seine Familie ursprünglich aus Kanada kommt, passiert es nicht selten, dass Óscar seine zwei Sprachen vermischte oder aus Versehen Wörter verwechselt. Manchmal vergisst er sogar einfach bestimmte Wörter.
Ich bin mir fast schon sicher, dass es ihm dieses Mal auch passiert ist. Vielleicht habe ich ihn deshalb nicht verstanden.
Und wenn nicht?

Óscars Worte verfolgen mich noch den ganzen Tag über, bis ich schließlich nachts im Bett von blauen, riesigen Schmetterlingen träume, die mir keine Ruhe geben wollen.

One Night Is All He WantedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt