Kapitel 12 || Where is my mind?

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In dieser Nacht lag ich lange wach. Während draußen der fast schon sanfte Nachtlärm mit dem Brummen des ein oder anderen Automotors und unverständlichen Gesprächsfetzen kichernder Jugendlicher am Nachhauseweg die Stille in meinem Zimmer durchbrach, wälzte ich mich in meinem Bett hin und her und konnte nicht schlafen. Es war einfach zu warm. Komisch, dabei hatte ich die Heizung doch extra ausgeschaltet, nachdem ich zur Tür hereingekommen war. Verwirrt tastete ich im Halbdunkel der Straßenlaternen, die verklärt zum Fenster herein schienen, nach dem Heizkörper und stellte überrascht fest, dass das Metall eiskalt war. Hatte ich etwa Fieber bekommen?

Das merkwürdige Abendessen ließ sich nicht so leicht auf den Stapel „Erledigte Geschäftstermine" legen wie ich gehofft hatte. Und das lag weder an der seltsam väterlichen Zuneigung von Mr. Wright noch an seiner überanhänglichen, beschwipsten Frau, sondern vielmehr an Philips Gegenwart, die die Luft zum Schneiden dick gemacht hatte wie das Steak auf seinem Teller. Fehlten nur noch Bratkartoffeln und ich wäre gar, auch jetzt noch. Seufzend öffnete ich die Augen und versuchte, all das zu vergessen, was meine Erinnerung so verdammt lebendig machte: das warme Kerzenlicht, den schweren Wein, die raue Backsteinmauer an meiner nackten Haut, als Philips Hände sich überall auf meinem Körper...

– „Okay, stopp, Lina", unterbrach mich mein innerer Moralapostel genervt, „lass deine Gedanken mal schön weg von seiner... äh... Hose. Ist dir deine Lage nicht bewusst? Dass er dich erpresst wie ein hilfloses, kleines Mädchen? Lässt du dir das etwa gefallen?" Ich schluckte schwer und setzte mich in meinem Bett auf, das unter der Bewegung leise knarzte. Im Nebenzimmer hörte ich, wie Charles leise etwas vor sich hin murmelte. Wahrscheinlich schlief sie schon wieder schlecht. Mein Gewissen hatte recht, was war nur mit mir los? Seit wann konnte ich Berufliches nicht mehr von Privatem trennen?

Wobei privat schon das falsche Wort war, denn wir hatten nichts, was uns verband, rein gar nichts. Philip war ein aufgeblasener, arroganter Sack, der meinte, irgendwelche Forderungen stellen zu können, nur weil er verdammt schöne Augen hatte. Und einen ziemlich attraktiven Modegeschmack. Egal, sagte ich mir und schüttelte den Kopf, um ihn und meine verworrenen Gedanken um ihn herum ein für alle Mal loszuwerden. Damit würde ich mich heute nicht mehr befassen. Und mein Herz dankte es mir, denn so schnell und fest wie es in meiner Brust pochte, war mir klar, warum meine Körpertemperatur in die Höhe schoss wie in einem Backofen.

Nach einem schnellen, frustrierenden Blick auf den Wecker (es war vier Uhr achtundvierzig) beschloss ich, den Schlaf auf morgen zu verlegen und strampelte mich zwischen meinen vielen weichen Kissen und der Decke aus dem Bett, um nach meiner kleinen Schwester zu sehen. Es beunruhigte mich, dass sie wieder im Schlaf redete. Das letzte Mal war schon einige Monate her und damals hatte man sie in der Schule gehänselt, weil sie sich in der Pause nie etwas aus der Schulküche kaufte, sondern immer nur mit meinen – zugegeben – dürftig aussehenden Sandwiches vorliebnehmen musste. Natürlich stand Charlotte darüber, denn sie war ein großes und reifes Mädchen. Was so schlimm daran sein sollte, dass jemand wenig Geld besaß, verstand sie nicht, denn sie war doch trotzdem ein guter Mensch, hatte sie damals nach der Schule zu mir gesagt und mich vollkommen fassungslos angeschaut. Nach außen hin schien sie den Vorfall mit ihren Schulkameraden gut verkraftet zu haben, aber für mehrere Woche hatte sie sich im Traum unruhig hin und her geworfen und ganze Dialoge mit Traumfiguren geführt.

Noch immer machte es mich traurig, wieviel Wahrheit doch in ihren Worten steckte und wie weit weg sie trotzdem von der harten Realität war. Ich versuchte sie solange wie nur möglich davor zu beschützen. Vor den Sorgen, die es mich kostete, Woche für Woche durchzurechnen, was ich wo einkaufen durfte, um einigermaßen genug für Miete, Strom und Wasser weglegen zu können. Wie oft wir beide mit sehnsüchtigen Blicken an einem Schaufenster vorbeigehen, wohlwissend, dass wir nicht einfach spontan mal shoppen gehen konnten. Wie nah am Abgrund wir eigentlich gewesen waren, bevor ich meinen Nebenjob begonnen hatte. Moral hin oder her, nur dadurch konnten wir drei uns unser Leben einigermaßen leisten. Und das machte mich verdammt stolz und gleichzeitig abhängig von irgendwelchen alten Single-Männern, die sich ihr Glas Scotch nicht allein in bester Gesellschaft genehmigen wollten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 03, 2020 ⏰

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