Kapitel 1 || Bilder und Gestalten

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Ich hämmerte wie eine Verrückte auf den Halteknopf der U-Bahn ein, während ich leise vor mich hinfluchte. Konnte ein Montag noch schrecklicher starten? Es reichte nicht, dass ich mit Charles ganze sieben Minuten lang mit der Straßenbahn im Stau gestanden hatten, nein, natürlich musste ausgerechnet jetzt die Bahn im stockfinsteren Tunnel steckenbleiben, gefangen in der ungewissen Dunkelheit zwischen zwei Stationen. Als schließlich der Fahrer eine kurze Durchsage machte, in der er ankündigte, dass es zu einer längeren Wartezeit kommen könne, war es für mich gelaufen. Frustriert stöhnte ich auf und trat mit dem Fuß gegen die U-Bahn-Tür. Schon wieder zu spät dran. Wie sollte ich bloß meine Prüfungen schaffen, wenn ich es nicht einmal zusammen brachte, rechtzeitig zu erscheinen?

Ein älterer Herr neben mir, den ich bis jetzt nicht weiter beachtet hatte, schmunzelte über meinen Frust und ließ ein kleines Hüsteln hören. Ich blickte ihn einen Moment lang bitterböse an, verfluchte mein Schicksal und erkannte dann, dass der lange Fellmantel und der dunkelbraune Hut nur meinem Vortragsprofessor gehören konnten. Erschrocken weitete ich meine Augen und begann, eine Begrüßung zu murmeln, aber er schnitt mir das Wort ab und meinte nur mit rauer Stimme: „Ich bin ebenso in Schwierigkeiten wie du, also haben wir kein Problem."

„Danke", sagte ich aus tiefstem Herzen und sofort löste sich der Knoten in meinem Bauch, den ich immer bekam, wenn ich mich verspätete. Da war ich leider sehr empfindlich und gleichzeitig konnte ich meine Zeit nicht besser einteilen.

„Wie geht es mit Ihrem Studium voran?", fragte Professor Bernard nun und lehnte sich gegen die Glaswand neben der Tür. Seine Hände steckten lässig in den Taschen. Wahrscheinlich spielte er wieder mal mit seiner versilberten Taschenuhr, die er bei so ungefähr jedem Vortrag ständig in der Hand hatte. Er war ein bisschen wie der Hase aus Alice im Wunderland, der sich immer so schrecklich hetzt. Allerdings hatte er keinen weißen Schnauzbart, also passte der Vergleich wohl doch nicht so ganz.

„Es... läuft", sagte ich vorsichtig und warf ihm flüchtig einen Blick von der Seite zu. (Eigentlich lernte ich momentan so gut wie überhaupt nichts.)

Das schien der Mittvierziger wohl auch zu merken. „Können Sie mir dann verraten, warum Ihre Prüfungsnoten sich verschlechtert haben?"

Unglücklich zuckte ich mit den Schultern.

„Angelina, ich weiß, wie sehr Sie diesen Abschluss wollen. Aber Sie müssen sich ein wenig mehr anstrengen, wenn Sie nicht nur knapp durchkommen wollen. Das haben wir doch schon einmal besprochen."

Mein Mund klappte auf und wieder zu, aber ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Ich war selber enttäuscht von mir und eigentlich würde ich gern viel mehr in mein eigenes Ding investieren, aber das ging ja nicht, solange ich mir mit Mum die Wohnungskosten teilte und meinen Zweitjob hatte. Ich musste sparen, an Zeit und an Geld, um endlich nach New York ziehen zu können, wo ich bei einer großen Zeitung arbeiten wollte. Momentan hatte ich nur einen kleinen Job bei einer Tageszeitung namens „The Reader's Daily", wo ich minimale Anzeigen schrieb, ab und zu mal einen Beitrag von einer halben Seite. Natürlich hätte ich mich auch hier mehr reinhängen und mich hocharbeiten können, wenn da nicht mein zweiter Job wäre...

Bevor ich mich gezwungen fühlte, eine Antwort zu geben, fiel plötzlich das Licht aus. Die übrigen Passagiere schnappten nach Luft, begannen angeregt zu reden, manche schrien leise auf und ich - feige, wie ich war - nutzte die Gelegenheit, um mich aus dem Staub zu machen. Mist, es war echt stockdunkel hier. Im Nachhinein bereute ich diese Entscheidung: Während ich mich im Waggon weiter nach vorne drängelte, stolperte ich über mindestens zwei Rucksäcke, lief in mehrere Menschen hinein und wäre beinahe hingefallen, hätten mich nicht zwei starke Arme reflexartig aufgefangen. Das Licht flackerte und als es wieder anging, fand ich mich keine zwei Handbreit von einem Mann entfernt, dessen ausdrucksstarke, grüne Augen mir unfreundlich entgegenblickten.

The Escort Girl || ReactivatedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt