Kapitel 3 || Zwei Gesichter

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Konzentriert murmelte ich in meine gefalteten Hände und versuchte, das eben gelesene zu wiederholen.

Ging allerdings schwer, wenn die kleine Schwester im Nebenzimmer statt Barbie dritter Weltkrieg spielte und ihre Lego-Steine klappernd durch die Luft segelten wie arme, abstürzende Piloten.

"Charlotte, bitte sei nur für fünf Minuten ruhig, ich muss lernen!" Mein Tonfall klang mehr verzweifelt als autoritär, und das kleine, rothaarige SimCity-Monster minimierte ihre Lautstärke um kein bisschen.

Murrend rappelte ich mich von meinem Bett hoch, stieg über meine Lernunterlagen, die überall auf dem Boden verstreut lagen, und riss die Zimmertür mit Schwung auf.

"Charles, wenn du nicht still bist, kauf ich dir später kein Eis!"

"Du bist gemein!", kam es aus dem Wohnzimmer zurück und bevor ich meine Tür wieder schließen konnte, hatte sich Charlotte schon zu ausgewachsener Zwergengröße aufgebaut und die Hände in die Hüften gestemmt.

Ich versuchte, nicht zu schmunzeln, weil sie eindeutig entsetzt war, aber spätestens als sie begann, gegen mein Schienbein zu treten und ihre Augen seltsam glasig wurden, kniete ich mich neben ihr auf den Boden und hielt ihre dünnen Arme fest.

"Hey, alles okay, Schwesterchen?", fragte ich besorgt und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. "Was ist los?"

Stur schüttelte sie den Kopf. Herrgott, dass sie ausgerechnet meinen Dickschädel hatte, machte die Sache auch nicht leichter.

"War etwas in der Schule? War jemand gemein zu dir? Soll ich jemanden verprügeln?" Wut staute sich in mir auf. Niemand durfte meine kleine Schwester auch nur ansatzweise anfassen. Da wurde ich schnell fuchsig.

Charles seufzte zitternd und unterdrückte einen Schluchzer. "Mummy kommt erst ganz spät nach Hause, oder?"

Ich sackte ein wenig in mich zusammen und versuchte, meine Mundwinkel nicht nach unten fallen zu lassen. Behutsam strich ich ihr über den Rücken und nickte stumm.

"Und du bist heute auch nicht da?" Ich schüttelte den Kopf, das schlechte Gewissen grinsend in der Tür. Heute war Freitagabend und ich hatte eine Verabredung.

Oder auch einen Job.

So klang es weniger, als hätte ich mir ein Date erfunden.

"Nein, ähm, ich bin essen mit einigen... Bekannten", versuchte ich zu erklären und probierte es mit einem entschuldigenden Lächeln, aber Charlotte sah mich nicht einmal an.

"Okay." Sie löste sich aus meiner Umarmung und schlurfte schweigend zurück ins Wohnzimmer.

Okay? Das war alles, was sie sagte? Kein Trösten mit Eiscreme? Kein Disney-Filmmarathon? Kein Spielen mit Toy Story-Figuren?

"Charlotte, was genau ist los?", gab ich schließlich meinem Mutterinstinkt nach und ohrfeigte mich für meine mangelnde Konzentration auf die Uni.

Charlotte saß auf der kleinen, hellroten Wohnzimmercouch, der man ihre Jahre wohl an den Gebrauchsspuren gut ablesen konnte. Ihr Gesicht war hinter ihrem langen Rotschopf verborgen, aber ich wusste trotzdem, dass sie den Tränen nahe war. Sie wollte nur nicht, dass ich es sah.

Ich seufzte lautlos, stieg über das Lego-Schlachtfeld auf dem Boden und setzte mich mit angewinkelten Beinen neben sie.

"Wieso sollen Mama und ich heute denn zu Hause sein? Du wirst nicht lang sein, vielleicht zwei Stunden, ich gehe erst spät weg und -"

"- aber ihr kommt nicht zu meinem Theaterstück."

Großartig, Lina. Ich schlug mental meinen Kopf gegen die nächste Wand und hasste mich für meine Unorganisiertheit.

The Escort Girl || ReactivatedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt