Ein neues Leben

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„Wird ganz schön seltsam hier ganz ohne dich, aber definitiv auch ordentlicher" Meine Mum lachte, um die Tränen zu überspielen, die ihr in die Augen traten. „Ach Mum, ich geh doch nur auf die Uni und nicht ans andere Ende der Welt" „Es ist trotzdem nicht leicht dich gehen zu lassen", sagte sie. Ich trat näher an sie heran und zog sie in eine Umarmung. „Es wird schon alles gut werden. Ich komm dich auch besuchen", sagte ich. „Gib mir Bescheid, wenn du angekommen bist" Wir lösten uns voneinander. „Klar doch Mum. Ich muss jetzt los, May wartet sicher schon". Ich hob die blaue Reisetasche auf meine Schulter und verließ das Haus, in dem ich die letzten achtzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte.

May wartete schon in ihrem kleinen Auto auf mich. Ich stopfte mein Gepäck in den ohnehin schon überfüllten Kofferraum und stieg dann zu meiner besten Freundin in die Fahrerkabine. „Können wir los?", fragte sie. „Ja, ich denke schon". „Na dann", sie legte den ersten Gang ein und fuhr aus der Parkbucht. Ich winkte meiner Mum zum Abschied zu und ließ mein altes Leben hinter mir.

„Schon irgendwie seltsam, oder?", fragte mich May, nachdem wir schon eine Weile lang auf dem Highway unterwegs waren. „Ja, und wie...da verbringt man sein ganzes Leben in demselben kleinen Ort, geht zur Schule und lebt so von den einen Tag in den anderen und dann hat man plötzlich den Abschluss in der Hand und weiß zum ersten Mal nicht wie es weitergehen soll..." „...und dann kommen alle Leute und wollen wissen was du jetzt mit deinem Leben anfangen wirst", führte May meinen Gedanken zu ende. Ich erinnere mich noch genau an die ersten Tage, nachdem ich endlich dieses Zeugnis in der Hand hatte. Planlos wie ich war wusste ich nicht was ich jetzt machen sollte, doch dann hatte mir May diese Universität gezeigt, für die sie sich beworben hatte. Das Angebot an Studiengängen war so groß, dass selbst ich etwas passendes gefunden habe. Und jetzt waren wir auf dem Weg in eine neue Stadt, viel größer als das kleine Örtchen, das ich gewohnt war und ganz anders. Dabei lag die Stadt gar nicht mal so weit von Zuhause weg. Die Fahrt dahin dauerte mit dem Auto gerade mal anderthalb Stunden, mit dem Zug war man noch schneller und trotzdem war das ganze hier für mich eine total neue Welt. „Du bist aufgeregt, nicht wahr?", May betrachtete mich aus dem Augenwinkel heraus. Wir kannten uns inzwischen so lange, dass sie beinahe jeden meiner Gedanken zu kennen schien. Dass sie mich so durchschaute war manchmal etwas unheimlich, aber die meiste Zeit über war ich einfach nur dankbar, dass ich einen Menschen hatte, der mehr verstand als ich mit Worte ausdrücken konnte.

Die Sonne ging bereits unter, als die Landschaft sich um uns herum zu verändern begann. Die weiten Grashügel zu beiden Seiten wichen langsam bewachsenen Felsen und dann sahen wir das Meer. Glitzernde Wassermassen schienen golden im Licht der untergehenden Sonne. Es war ein wunderschönes Schauspiel, wie sich die letzten Lichtstrahlen auf den sanften Wellen brachen. Viel zu früh fuhr May von der Küstenstraße ab und hinein in die Stadt, die meine neue Heimat werden sollte. Wir kamen nur langsam durch den geschäftigen Feierabendverkehr. Es war eine echte Erleichterung, als wir endlich auf eine ruhigere Straße abbogen und das Gedränge hinter uns ließen.

Die Universität lag auf einer Anhöhe, sodass wir von dort aus hinunter auf die Stadt schauen konnten. Das Campusgelände war wirklich schön. Jetzt, wo es bereits dunkel war, erkannte man nicht gerade viel, aber ich konnte mich noch genau an die großen Gebäude erinnern, die zwar modern waren, aber auf eine gute Weise. Außerdem gab es viele Grünflächen und auch einige Bäume säumten die Wege, sodass nichts gedrängt wirkte. Ich habe mir viele Universitäten angeschaut, doch keine war so schön wie die Ashriver University. Mir ist es immer noch ein Rätsel weshalb ausgerechnet ich hier angenommen wurde.

May lenkte ihren kleinen weißen Flitzer auf den Parkplatz. „Endlich da!". Sie stieg aus dem Auto und streckte den Rücken durch um die von der langen Fahrt verkrampften Muskeln etwas zu lockern. Auch ich dehnte mich etwas, bevor ich zum Kofferraum ging und unser Gepäck auslud. „Komm", sagte ich zu May, „lass uns das ganze Zeug in unsere Zimmer bringen". „Gute Idee". Ich schulterte meine Reisetasche und May nahm ihren Koffer. Gemeinsam überquerten wir den Campus und hielten schließlich vor dem Wohnheim der Mädchen an. Ich zog den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete damit die Fronttür. Der Gang war hell erleuchtet und mit grauem Parkettboden ausgelegt. Mays Zimmer befand sich relativ weit vorne, meines lag am anderen Ende des Gebäudes. Vor ihrer Tür machten wir halt. „Also dann mach ich es mir mal bequem", sagte May und drückte mich. „Wir sehen uns morgen früh". „Machs gut", verabschiedete ich mich und lief den Gang entlang zu meinem eigenen Raum. Es dauerte fast fünf Minuten bis ich da war, da mein Zimmer wirklich in der letzten Ecke des Gebäudes lag. Es war das letzte gewesen, was noch frei war. May hat es richtig gemacht. Sie hatte sich eines der Zimmer reserviert, sobald sie die Zusage von der Uni hatte. Ich hatte das allerdings etwas schleifen lassen. Zum Glück war überhaupt noch ein Zimmer frei, als ich mich endlich darum gekümmert habe.

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