Kapitel 31.

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Ich habe versucht nicht einzuschlafen. Ich habe versucht, jeden von Harrys Atemzügen abzuspeichern. Seinen Geruch, die Schwere seines Armes auf meiner Hüfte, das Gefühl, das seine nackte Haut an meiner auslöst.

Als ich die Augen schließlich wieder aufschlage, greife ich zuallererst nach meiner Hose, die vor dem Bett liegt und ziehe mein Handy hervor. Ich bin zehn Minuten vor dem Weckerklingeln wach geworden und damit mindestens zwei Stunden, nachdem ich zum letzten Mal nach der Uhrzeit geschaut habe. Ich schalte den Wecker aus, bevor er klingeln kann, und lasse mich für einen letzten Moment zurück in die Kissen sinken. Harry liegt mit dem Rücken zu mir.

Ich schiebe vorsichtig einen Arm um seine Schultern und vergrabe mein Gesicht in seinem Nacken. Das hier würde das letzte Mal sein, und jetzt, wo der Moment da ist, bin ich seltsam gefasst. Ich sauge alles in mich auf. Jedes Detail, jedes noch so kleine Fragment dieses Moments brennt sich in mein Gedächtnis ein und ich weiß, dass ich davon zehren werde.

Bevor ich schwach werden kann, bevor ich die Kraft dafür verliere, löse ich meinen Arm von Harrys schlafendem Körper und rutsche so lautlos wie möglich aus dem Bett. Ich sammle meine Kleidung auf, ziehe sie jedoch erst außerhalb des Schlafzimmers an, um ihn nicht zu wecken. Als ich sein Bad passiere, kurz bevor ich dieses Hotelzimmer zum letzten Mal verlasse, halte ich für einen Moment inne, denn mein Blick ist auf einen grauen Pullover gefallen, den er scheinbar am Tag zuvor achtlos im Badezimmer hat liegen lassen. Es ist kitschig auf der einen, und Diebstahl auf der anderen Seite, aber ich kann mich sowieso nicht mehr daran erinnern, wann ich zum letzten Mal rational gedacht habe. Der Pullover riecht nach ihm und wird es auch noch eine Weile tun. Ich klemme ihn mir unter den Arm und ziehe dann die Zimmertür so leise wie möglich hinter mir zu.

Ab jetzt handle ich pragmatisch und erfülle lediglich Punkte auf einer imaginären To Do Liste.

Ich dusche, schlüpfe in Harrys Pullover und verstaue die letzten noch herumliegenden Sachen in meinem Koffer. Ich schreibe Jessica, dass ich nun losfahre und ihr einen guten Flug wünsche - ihrer würde erst am Nachmittag gehen, sie hatte noch einen geschäftlichen Termin in London - und ich rufe kurz Jack an, um mich zu vergewissern, dass er schon unten ist. Als ich sicher bin, dass sich wirklich all meine Sachen in meinem Koffer befinden, schultere ich meine Handtasche, greife meinen Koffer und verlasse das Hotelzimmer.

Ich lasse nicht zu, dass ich wehmütig werde. Ich lasse keines der Gefühle zu, die sich mir gerade aufdrängen. Bis ich zuhause bin, denke ich. Und daran halte ich mich fest. Zurück in Deutschland würde ich mir erlauben, alles zu fühlen. Doch jetzt, für die letzten Stunden, würde ich stark bleiben.

Bevor ich auf den Parkplatz gehe, gebe ich meine Schlüsselkarte an der Rezeption ab und bedanke mich etwa zwanzig Mal für den angenehmen Aufenthalt. Schließlich, und ich sehe das als meine letzte Amtshandlung in diesen, auf Hochglanz polierten Hallen, ziehe ich einen leicht zerknitterten Briefumschlag aus meiner Handtasche und reiche ihn dem Rezeptionist. Es ist der Abschied, für den ich die ganze Zeit über keine Worte gefunden habe.

„Würden Sie den hier Herrn Styles zukommen lassen? Zimmer...", doch bevor ich zu einer großen Erklärungen ansetzen kann, nickt der Mann bereits und schiebt den Brief in ein Fach.

„Die Zustellung erfolgt mit dem Kaffee, den Herr Styles jeden Morgen bekommt."

Ich nicke, bedanke mich ein weiteres Mal und durchquere dann die Eingangshalle. Schnell. Keine Abschiedsszenen, kein Harry, der atemlos auf mich zustürmt, weil ihm das Fehlen meines Körpers neben seinem aufgefallen ist. Kein Happy End in letzter Sekunde. Keine Schwüre, die wir sowieso nicht würden halten können. Keine Tränen. Das hier ist kein Film.

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, als mir Jack auf dem Parkplatz entgegenkommt, mir einen guten Morgen wünscht und mir meinen Koffer so sanft abnimmt, als würde er ein paar besonders fragile, rohe Eier enthalten. Als ich die Beifahrertür öffne, gerät mein Plan, einen Zusammenbruch so weit wie möglich hinauszuzögern für den Moment ins Wanken. Auf dem Sitz stehen ein großer Kaffee und ein Muffin aus dem Café, welches Jack bereits bei unserer ersten Fahrt ausgewählt hatte.

„Ich dachte, heute wäre etwas Trost angebracht", sagt er und zwinkert mir über das Autodach hinweg zu.

Mein Lächeln ist gequält, aber ehrlich.

So früh am Morgen herrscht sehr viel weniger Verkehr als bei meiner Anreise. Wir kommen gut und schnell durch und Jack beweist wie immer sein absolutes Feingefühl, indem er schweigt, jedoch das Radio leise im Hintergrund laufen lässt, damit wir auch diesmal nicht von der Stille erdrückt werden.

Als der Flughafen in Sicht kommt, verstaue ich den Muffin sicher in meiner Handtasche, straffe die Schultern und setze mich etwas zu gerade im Sitz auf. Jack bringt uns sicher durch das typische Flughafengewusel und fährt uns schließlich so nah wie nur möglich an Terminal 5 heran.

Bevor er fragen kann, schüttle ich lächelnd den Kopf. „Ich schaff das schon von hier aus, sind ja nur zwei Schritte und drei Mal umfallen."

Er hilft mir trotzdem, den Koffer aus dem Kofferraum zu wuchten, versichert sich, ob ich es auch wirklich allein schaffe, ob ich meine nötigen Unterlagen griffbereit und meinen Muffin sicher verstaut habe und als ich fürchte, dass mich seine Väterlichkeit übermannt, umarme ich ihn so fest ich kann und danke ihm für jeden einzelnen Moment.

Dann gehe ich. Zielstrebig und schnell, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich zögere nicht, als ich mich in die richtigen Schlangen einreihe, mein Gepäck aufgebe, mein Handy ausschalte, bevor ich überhaupt in die Nähe eines Flugzeuges komme und mir schließlich die Zeit mit einem weiteren Kaffee und einer wahllos ausgewählten Tageszeitung vertreibe. Mein Kaffeekonsum hatte in London einen weiteren Höhepunkt erreicht und obwohl ich ihn in mich hereinschütte wie nichts Gutes, spüre ich auch jetzt keine Wirkung des Koffeins.

Ich funktioniere auf Autopilot. Mehr noch, ich habe in den Überlebensmodus umgestellt. Alles, was nicht lebensnotwendig ist, wurde heruntergefahren. Da sind Gefühle, da sind eine endlose Traurigkeit und eine wahnsinnige Wut auf mich selbst. Da ist der Drang, Harry eintausend Nachrichten zu schreiben. Jack anzurufen, damit er mich auf schnellstem Weg zurück ins Hotel bringt. Ich will Jessica für alles verantwortlich machen, immerhin hat sie mich zu diesem Projekt überredet. Ich möchte meine Freunde dafür anschreien, mir eine Wohnung organisiert zu haben.

Aber allem voran möchte ich sauer auf mich sein, so sauer, dass es mich lähmt, dass es mich in meiner Trauer gefangen hält. All das existiert in mir, bereit, loszubrechen wenn ich es lasse. Aber ich lasse es nicht. Ich sperre es hinter massive Türen, schließe mehrfach ab und verbleibe mit dem Rücken an die verschlossenen Türen gelehnt. Nicht jetzt. Nicht hier.

Als mein Flug aufgerufen wird reihe ich mich erneut ein. Warte. Gehe. Alles funktioniert mechanisch: meine Füße, meine Atmung, das höfliche Lächeln, als eine Stewardess mir meinen Platz zuweist. Ich verstaue meine Tasche, schnalle mich an und richte meinen Blick aus dem Fenster, hinaus auf das Rollfeld. Es ist egal, wer sich da neben mich setzt; die Sicherheitsanweisungen kenne ich auswendig.

Dieses Flugzeug wird losfahren und abheben. Und das wird dann das Ende dieser Geschichte sein.

»3 am« [harry styles]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt