Kapitel 29.

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Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich zum ersten Mal von diesem Dach geschaut habe, vollkommen erfüllt von dem Gedanken, dass das alles nicht wahr, nicht real, sein kann. Und wie dann alles wahr wurde. Ich erinnere mich an jedes Gefühl, an die Aufregung, aber auch die tiefe Befriedigung, die ich mir damals nicht hatte eingestehen, ja die ich nicht einmal hatte wahrnehmen wollen. Als ich am Anfang dieser Reise zum ersten Mal auf dieser Dachterrasse gestanden hatte, hatte ich es geschafft. Deutlicher als in diesem Moment, so berauscht von diesem Hotel, von allem, was da auf mich zukommen würde, hatte ich niemals die Ausmaße dessen gespürt, was ich durch ein paar Worte, gedruckt auf ein paar Seiten, erreicht hatte.

Es hat mittlerweile aufgehört zu regnen und wir finden zwei Stühle, deren Sitzflächen tatsächlich trocken sind. Harry hat die Hände im Schoß gefaltet, während ich mit meinen Händen meine angewinkelten Beine umfasse. Meine Körperhaltung könnte nicht klarer sein und ich habe keine Ahnung, wo er diese engelsgleiche Geduld für mich hernimmt, warum er nicht längst wütend geworden ist.

Wir sitzen schon eine Weile so da, den Blick auf den Verkehr unter uns gerichtet, ohne, dass einer von uns beiden das Wort ergriffen hat. Jedes Mal, wenn ich beschließe, dieses Schweigen endlich zu brechen, schnüren mir die Worte den Hals zu. Mehrfach setze ich an, lasse es dann wieder und als ich schließlich etwas sage, hektisch und viel zu schnell, entsprechen die Worte überhaupt nicht denen, die ich hatte sagen wollen:

„Du hast nie etwas gesagt. Außer dieses eine Mal. Keine Absprache darüber, wie das hier weitergehen soll - was immer das überhaupt ist - oder wie das hier weitergehen könnte."

Ich höre Harry geräuschvoll ausatmen, sehe ihn aber nicht an. Dieses Gespräch geht jetzt schon in eine Richtung, in die es nicht hätte gehen sollen. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass ich von allen Varianten des Gesprächseinstiegs die dümmste gewählt hatte: Vorwürfe an jemanden, der absolut keine Vorwürfe verdiente.

„Ich wusste nicht, dass du eine Definition für das hier brauchst. Für mich war das alles immer sehr klar."

„Darum geht's doch gar nicht", entgegne ich leise und ziehe die Knie enger an meinen Oberkörper, verkrieche mich tiefer in meinen Schutzpanzer und habe schon dicht gemacht, bevor ich überhaupt versucht habe, offen zu sein.

Harry seufzt. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und das Prickeln in meinem Gesicht verrät mir, dass Harry nun nicht mehr London, sondern mich ansieht. Es kostet mich jede Überwindung, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Ihm ist die Anspannung deutlich anzusehen. Ich kenne dieses Gesicht mittlerweile gut genug, habe es unzählige Male in unzähligen Situationen beobachtet, um zu wissen, dass er mit sich selbst ringt.

„Okay, okay. Dann lass mich dir sagen, worum es mir geht. Und vielleicht willst du mir dann sagen, worum es dir geht. Vielleicht willst du mir überhaupt mal irgendetwas sagen", beginnt er.

Er hat sich mir zugewandt und seine Hände liegen nicht mehr ruhig in seinem Schoß. Er knetet sie, während er ruhig, aber mit einem nie dagewesenen Nachdruck spricht. Nach einer kurzen Pause räuspert er sich erneut.

„Ich will nicht, dass das hier zeitnah endet. Im Gegenteil. Und ich glaube auch nicht, dass ich dir in den letzten Wochen das Gefühl gegeben habe, dass das hier eine lockere Arbeitsaffäre ist. Ich hab keinen Plan, Alex. Aber ich hab auch nicht vor, dass sich unsere Wege so bald wieder trennen."

Noch während er spricht wende ich den Blick wieder ab, hin zur Aussicht, hin zum Verkehr, doch ich erkenne nichts mehr. Meine Sicht ist verschwommen und ich will mir nicht über die Augen wischen, damit Harry meine Tränen nicht bemerkt.

„Du hast nie etwas gesagt", meine Stimme klingt fest, obwohl alles in mir schwankt. „Sowas wie: verlängere doch deinen Aufenthalt in London. Komm mit mir in die USA. Ich komm zu dir nach Deutschland. Was weiß ich", ich zupfe imaginäre Flusen von meinen Knien während ich so tue, als seien das echte Einwände, echte Vorwürfe; als ginge es darum, Harry etwas vorzuhalten.

„Hast du etwas gesagt? Hast du irgendwann wirklich und tatsächlich gesagt, dass wir das hinkriegen? Oder dass wir es eben nicht hinkriegen?", im Gegensatz zu meiner, bebt Harrys Stimme. „Dass du das willst?"

„Aber...", beginne ich, ohne wirklich zu wissen, woraus mein Einwand dieses Mal besteht, doch er unterbricht mich sofort wieder.

„Es ist nicht meine Aufgabe, deine Entscheidungen zu treffen. Ich kann dir das nicht abnehmen."

Es ist nicht wahrhaftig still zwischen uns. Ausgedünnt von den zwölf Stockwerken zwischen uns und den Straßen hören wir die letzten Überbleibsel des Verkehrslärms. Der Wind zieht geräuschvoll um die Ecken der Dachterrasse. Ich höre Harry, der es nicht schafft völlig ruhig in seinem Stuhl zu sitzen und ich bin mir sicher, dass Harry mein Herz hört, welches viel zu schnell und viel zu schmerzhaft hinter meinem Brustkorb schlägt.

Es fängt wieder an zu regnen, ganz leicht und fein nur. Ich frage mich, wie das hier aussehen würde, wäre es eine Szene in einer Geschichte, die ich schreibe. Wie könnte ich die Protagonistin - und vor allem den Protagonisten - jetzt noch retten. Eine Stelle im Plot, die zu verfahren ist, als dass man sie einfach und zur allgemeinen Zufriedenheit auflösen könnte. Dies hier wäre eine dieser Stellen, an denen ich vielleicht einfach einen Cliffhanger setzen würde. Raus aus der Szene, weg von der Unlösbarkeit. Das Licht dimmen bis es erlischt und die Geschichte an einem anderen Ort, in einem anderem Setting, erneut erleuchten.

In meinem Kopf zähle ich die Sekunden herunter. Ganz langsam. Ich gebe demjenigen, der diese Geschichte hier schreibt die Chance, eine Lösung zu finden. Oder einfach bloß das Licht zu löschen. Als ich bei sechzig angelangt bin und sich nichts verändert hat räuspere ich mich.

„Mein Rückflug geht in fünf Tagen. Vor ein paar Tagen habe ich einen Mietvertrag für eine Wohnung in Deutschland unterschrieben. Ich weiß nicht, ich kann einfach nicht...", sage ich leise.

Nun ist der Bruch auch in meiner Stimme da. Kaum habe ich diese beiden unumstößlichen Wahrheiten ausgesprochen, presse ich die Lippen so fest aufeinander, dass sie weh tun. Die Tränen schwimmen jetzt nicht mehr bloß in meinen Augen, sie tropfen mir auf die Wangen, ohne dass ich eine Chance hätte, sie noch länger zu unterdrücken.

Harry sagt sehr lange nichts. Die Zeit und die Stille dehnen sich soweit zwischen uns aus, dass sie uns meilenweit voneinander entfernen. Der feine Regen geht langsam in richtige Tropfen über.

Dass sich Harry von seinem Stuhl erhebt, erkenne ich bloß an dem scharrenden Geräusch der Stuhlbeine.

„Du hast dich also längst entschieden", sagt er.

Ich wende den Blick nicht von der Aussicht, ich halte den Blick so starr, als würde mein Leben davon abhängen. Erst als sich seine Schritte von mir entfernt haben und ich die Tür der Dachterrasse habe ins Schloss fallen hören, gebe ich dem Druck nach und vergrabe mein Gesicht an meinen Knien.

»3 am« [harry styles]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt