Kapitel 1

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Sie erwachte im Morgengrauen. Wieder begann ein neuer Tag, doch sie hatte vor ihn auf die gleiche Weise zu verbringen wie die gesamten letzten Wochen.


Sie stand auf und blickte sich in ihrem Apartment um. Es war nur eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung mit einem Bett, einer winzigen roten Küchenzeile und einem abgenutzten Schreibtisch aus hellem Holz. Obwohl sich überall der Dreck der letzten Wochen stapelte, war doch zu erkennen wie liebevoll alles eingerichtet war. Sie liebte dieses Apartment und als sie jetzt das kleine angeschlossene Bad betrat und sich unter die Dusche stellte, war sie sich dessen bewusster denn je. In Gedanken legte sie sich ihre Fragen und Argumente zurecht, dann sammelte sie ihre Unterlagen vom Schreibtisch und machte sich auf den Weg. Diesen kannte sie inzwischen so gut wie kaum einen anderen, schließlich fuhr sie ihn seit Wochen jeden Tag aufs Neue, doch vorher musste sie noch etwas anderes erledigen. Im Vorbeigehen griff sie sich ihre Tasche und das kleine Geschenk vom Tisch. Sie warf einen Blick auf das gerahmte Foto neben ihrem Bett und verließ ihr Apartment.


Während der Fahrt dachte sie an das letzte Telefonat, das sie mit ihren Eltern geführt hatte, an die letzten Worte, die sie an ihre Großeltern gerichtet hatte und den letzten Streit, den sie mit ihrem Bruder gehabt hatte. Doch all das waren nur noch Erinnerungen, denn sie waren alle fort. Es war niemand mehr da mit dem sie die Erinnerungen teilen konnte oder der mit ihr darüber lachen würde. Sie war allein, so allein wie sie sich nie zuvor in ihrem Leben gefühlt hatte. Als sie auf den Parkplatz fuhr und den Motor abstellte, lief ihr eine Träne übers Gesicht. Es war jetzt einen Monat her, dass sie zuletzt hier gewesen war. Es war der Tag gewesen, an dem sie alle beerdigt worden waren.


Fein säuberlich nebeneinander ragten fünf Holzkreuze vor ihr auf, jedes davon stand für ein Stück ihres Herzens, dass sie auf ewig verloren hatte. Sie ging nacheinander zu jedem Kreuz und sprach mit dem Menschen, für den es stand. Als sie das letzte Grab erreicht hatte, nahm sie das Päckchen aus ihrer Tasche. Sie hatte das, was darin war, schon vor Monaten gekauft und darauf hin gefiebert zu sehen wie erstaunt er sein würde, wenn er es auspackte. Doch jetzt würde sie es nie sehen, sie ging neben dem Kreuz in die Hocke, legte das Geschenk mit der hübschen blauen Schleife an dessen Fuß und flüsterte: "Alles Gute zum Geburtstag, Kleiner." Kurze Zeit blieb sie reglos dort hocken. Dann richte sie sich auf, wischte die Tränen von ihren Wangen und machte sich wieder auf den Weg, denn sie hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen. Der junge Mann, der sie aus dem Schatten der Bäume heraus beobachtet hatte, trat erst hervor, als sie bereits davongefahren war. Auch er hatte Tränen in den Augen, während er an den Gräbern niederkniete. Bevor er ging, hob er das kleine Päckchen, das sie zurückgelassen hatte, auf und steckte es ein.


Sie parkte ihr Auto auf einem der Besucherparkplätze vor dem kleinen blau-weißen Gebäude. Bevor sie ausstieg, rekapitulierte sie in Gedanken noch einmal alles, was sie sich am Morgen überlegt hatte. Dann ging sie festen Schrittes auf den Eingang zu und betrat das Polizeirevier.
Der Kommissarsanwärter am Empfang hatte sie bereits gesehen, bevor sie das Gebäude erreichte. Sie war eine schlanke, junge Frau mit schulterlangem, braunem Haar und eisblauen Augen, in denen so viel Schmerz und Kummer lag, dass er es fast körperlich spüren konnte. Von seinem Platz am Empfang konnte er den gesamten Hof überblicken und sah seit Wochen fasziniert zu wie sie hartnäckig jeden Tag auf das Revier kam um Kriminalhauptkommissar Steiger zu sprechen. Als Elisa Jung nun auf ihn zu kam, konnte er sehen, dass sie geweint hatte, denn inzwischen kannte er ihr Gesicht, kannte es genau wie ihre Stimmungen. Und heute sollte sich Steiger wohl besser Zeit für sie nehmen, denn sie schien nicht in der Stimmung zu sein sich wegschicken zu lassen.

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