Kapitel 10

1 0 0
                                    


Seit sechs Wochen war sie nun fast allein in diesem riesigen Gebäude. Im Hauptgebäude wurden die Zimmer umgeräumt, da für die Novizen nur vier Betten in jedem Zimmer gebraucht wurden. Außerdem wurde die Küche modernisiert und im Speisesaal standen nun, statt zwei langer Tafeln, zwölf kleine Tische für bis zu sechs Personen und der obligatorische Lehrertisch. Gleich am Tag nach der Abreise der anderen, war Jennifer mit dem Bus in die nächstgelegene kleine Stadt gefahren, um die Dinge auf ihrer Liste zu besorgen. Zuerst war sie in einem Sport- und Outdoorgeschäft gewesen. Dort hatte sie eine selbstaufblasende Isomatte, einen Schlafsack, eine große Taschenlampe und ein Zelt erstanden. Dann war sie weiter durch die Geschäfte gezogen, erst eine Buchhandlung, dann ein Schreibwarenladen und zu guter Letzt hatte sie sich noch einige neue Kleidungsstücke zugelegt. Es war ein produktiver Tag gewesen, doch sie war froh, als sie alle ihre Einkäufe unversehrt zur Akademie geschafft hatte. Da sie nicht in einem der Schlafsäle übernachten konnte, hatte sie ihre Sachen in die Bibliothek gebracht, die sie entdeckt hatte. Es schien niemanden zu stören, dass sie dort schlief, also machte sie es zu ihrem Zuhause für die nächsten sechs Wochen.Die Bibliothek lag im gleichen Gebäude wie die Trainingshalle und die Computerlabore, allerdings befand sie sich direkt unter dem Dach. Hier kam die alte Architektur des Klosterbaus durch, denn die Balken des Dachstuhls waren freigelegt worden. Die Regale voller Bücher füllten den gesamten Raum und reichten bis hoch zur Decke. Zu beiden Seiten fiel das Dach schräg ab und die großen Dachfenster ließen ausreichend Licht hinein. Überall unterhalb der Fenster gab es Nischen, in denen kleine Tische standen zum Lernen oder Sitzkissen zum Lesen lagen. Durch das viele Holz und die unzähligen Bücher wirkte der Raum unwahrscheinlich gemütlich und heimelig. Jennifer hatte sich eine der hinteren Nischen ausgesucht und die dort gestapelten Sitzkissen beiseite geräumt. Jetzt lagen dort ihre Isomatte und ihr Schlafsack direkt unter einem Dachfenster, durch das sie nachts in den Himmel schauen konnte.Sie verbrachte ihre Tage mit dem Lesen dutzender Bücher, mit langen Spaziergängen und endlosen Telefonaten mit ihren Freundinnen. Doch endlich waren die sechs Wochen vorbei und sie freute sich darauf, dass im Laufe des Tages die anderen Novizen anreisen würden. Ihre Freundinnen waren bereits auf dem Weg und während sie ihre Sachen zusammenpackte, schweiften ihre Gedanken zu ihrer Familie und all ihre Freude verschwand. Niemand, nicht mal ihre Mutter, hatten sich nach ihr erkundigt. Keiner, nicht einmal ihre Geschwister, interessierten sich dafür wie es ihr ging. Doch obwohl es sie verletzte, hatte sie sich damit abgefunden, dass ihre Familie sie weder verstand noch auch nur verstehen wollte. Und diese Tatsache machte sie eher wütend als traurig. Sie hatte ihren Platz gefunden, mit Freundinnen, die sie mochten wie sie war und ohne irgendwelche Forderungen an sie zu stellen. Jetzt kehrte ihre unbändige Vorfreude zurück und sie sammelte die letzten Sachen ein, um sie hinüber ins Hauptgebäude zu bringen.


***

Einen alten Armeerucksack neben sich und die Füße auf einer großen schwarzen Reisetasche saß sie im Fernzug quer durch die Republik. Die letzten Wochen hatte sie sehr genossen, doch sie wusste, dass sie zurück musste. Sie wollte sich eine Perspektive für die Zukunft schaffen und das verlangte nun einmal, dass sie sich ausbilden ließ. Schließlich zählte ihre Schwester auf sie. Nur schweren Herzens hatte Natascha sich von ihr verabschiedet und versprochen so bald wie möglich wiederzukommen. Nun blickte sie hinaus auf die Landschaften, die an ihr vorbei rasten und dachte an das, was ihr bevorstand. Als sie nach Hause gekommen war, hatte ihre Schwester sie sofort ausgequetscht. Die Liste mit Sachen, die sie benötigte, hatten sie beide gemeinsam im Laufe der Wochen abgearbeitet und nun waren alle diese Dinge in ihrem Gepäck verstaut. Sie blickte auf die beiden Taschen. In diesen Taschen befand sich ihr gesamtes Leben, ihr ganzes Hab und Gut. Ihre Schwester war gut untergebracht und konnte solange dort bleiben bis Natascha ihre Ausbildung abgeschlossen hatte.Sie vermisste die Kleine schon jetzt, aber sie spürte auch die Freude in sich aufsteigen, als sie an ihre Freundinnen dachte. Sie hatte die beiden so lieb gewonnen, obwohl sie sich nur zwei Tage kennengelernt hatten. Die Dinge, die Elisa ihr über die ''Leader'' erzählt hatte, ließ sie noch mehr hoffen. Vielleicht könnten sie nach der Ausbildung ein Team werden und ein Leben führen, von dem sie immer geträumt hatte. Sie könnte die Familien der anderen kennenlernen und die ihre. Wenn sie nicht allzu weit auseinander wohnten später, könnten sie füreinander wie Familie sein. Diese Träume sah Natascha ganz deutlich vor sich, aber wer wusste schon, was die anderen wollten. Sie waren anders als sie. Die beiden hatten Familie, auch wenn Jennifers gerade nicht mit ihr redete und Elisa, tja, bei ihr wusste sie nicht so genau. Sie hatte Jen verstanden als diese ihre Familie vermisst hatte und konnte ihre Liebe zu ihrer kleinen Schwester verstehen, das hatte sie in den letzten Wochen während ihrer Telefonate festgestellt, doch über ihre Familie hatte Elisa nie gesprochen, aber das fiel Natascha erst jetzt auf und sie nahm sich vor sie danach zu fragen.Der Zugführer rief ihre Station auf und sie trug ihre Taschen zur Tür. Nachdem sie ihre Sachen auf den Bahnsteig gehievt hatte, sprang Natascha aus dem Zug. Dann schulterte sie den Rucksack, packte die Reisetasche und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Die AkademieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt