10 - Mit meinen Augen

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Ich stehe am Anfang eines langen Flures. Alles ist in weiß gehalten. Links und rechts von mir befinden sich Türen. Wo bin ich? Was mache ich hier? Ist das der Himmel? Wenn ja, ist er komisch.

Ich sehe an mir herunter. Ich trage genau das, was ich heute angezogen habe: mein dunkelgrünes Top, meine hellblaue Jeans im destroyed-Look und die Glitzer-Nikes. Ich kann auf keinen Fall tot sein. Oder? Ich fühle mich gar nicht als wäre ich tot und durchsichtig sehe ich auch nicht aus. Aber wo zur Hölle bin ich dann?!

Ich gehe ein paar Schritte den Flur hinunter und sehe mich dabei um. Auf manchen Türen stehen Jahreszahlen und auf anderen wiederum nicht. Ich kann erkennen, dass vor einer Tür, rechts von mir, etwas auf dem Boden liegt. Ich gehe hin und bücke mich. Es ist ein kleiner, brauner Stoffhase. Den kenne ich doch! Aber es ist schon lange her. Das ist doch... Nein! Das ist doch Futz, mein Lieblingshase. Zumindest war er das. Meine Oma hatte ihn mir mal geschenkt. Ich hebe den Hase auf. Was wohl hinter der Tür ist? Neugierig wie ich bin, öffne ich sie und gehe hindruch.

Plötzlich finde ich mich in meinem ehemaligen Kinderzimmer wieder. Es ist genau wie in meiner Erinnerung. Moment mal. Erinnerung? Ich hoffe nicht, dass es ist, was ich denke, das es ist. In dem Moment kommt eine Person ins Zimmer. Ich zucke zusammen. Es ist... das bin ICH. Also vielmehr die Grundschulversion von mir. Aber sie... ich meine mein jüngeres Ich scheint mich gar nicht zu bemerken. Verrückt. Es ist als wäre ich Zuschauer in meinem Leben. Beziehungsweise in meiner Vergangenheit.

Mein jüngeres Ich geht zum Kleiderschrank und öffnet ihn. Er ist ziemlich leer. Es dämmert mir, welchen Moment ich hier gerade noch einmal erlebe. Es ist auf jeden Fall einer meiner schlimmsten gewesen. Mein jüngeres Ich wirkt beim Anblick des größtenteils leeren Schrankes fassungslos. Ich würde mich so gerne in den Arm nehmen und mich trösten.

Es ist der Tag, an dem meine leibliche Mutter mir fast alles weg genommen hatte. Sie hatte, während ich in der Grundschule war, meinen Kleiderschrank fast leer geräumt. Kuscheltiere, Briefpapier und Allerlei mehr, an das ich mich nicht mehr erinnere, war darunter gewesen. Und mein Hase, mein geliebter Futz war ihr auch zum Opfer gefallen. Meine Mutter hatte alles in 6 großen Müllsäcken verstaut und dann weg geworfen. Ich kann den Schmerz wieder spüren. Viel Schmerz, Unglaube und Unverständnis.

Ich erinnere mich des Weiteren wieder daran, dass einige Zeit später, am Tag bevor der Restmüll abgeholt wurde, ich mit meiner Mutter spazieren gehen musste. Wie so oft. Kurz bevor wir das Grundstück verlassen hatten, hatte ich noch etwas in den Restmüll werfen wollen und dabei meinen Lieblingshasen ganz oben auf dem Müll liegen sehen. Ich weiß noch, dass ich ihn an mich nehmen wollte, aber meine Mutter hatte es verboten. Es hat mir das Herz gebrochen ihn nie wieder in meinen Armen halten zu dürfen.

Ich verlasse die Erinnerung wieder, weil ich nicht länger in dieser verweilen will. Wieder im Flur angekommen, gehe ich wahllos zur nächsten Tür und trete in die Erinnerung ein.

Wieder sehe ich mein Grundschul-Ich. Ich laufe die Straße entlang, auf dem Bürgersteig, Richtung Haus meiner Eltern. Ich komme gerade von der Schule. Gerade gehe ich an einem Second Hand Laden vorbei. Von hier aus sind es nur noch ein paar Meter bis nach Hause. Etwas in dem großen Schaufenster erregt meine Aufmerksamkeit. Es ist eine Puppenwiege aus dunkelrotem Holz und mit einem blumengemusterten Himmelbett. So eine habe ich doch auch.

Fröhlich hüpfe ich den restlichen Weg bis nach Hause. Meine Mutter ist in der Küche. Ich will ihr von meiner unglaublichen Entdeckung erzählen. "Mama, du errätst nie, was ich heute gesehen habe!"

"So, was denn?", fragt meine Mutter. "In dem Schaufenster des Second Hand Ladens hab ich eine Puppenwiege gesehen, die genauso aussieht wie meine auch."

"Es ist deine. Ich habe sie verkauft, weil du nicht mehr damit spielst. Also brauchst du sie auch nicht mehr."

Ich renne aus der Erinnerung heraus und den Flur entlang. Immer weiter. Das will ich alles nicht noch einmal durchleben! Es ist zu viel! Zu viel Schmerz. Ich renne, bis ich in der Ferne ein helles Licht erblicken kann. Was ist das? Ich bleibe stehen. Ich weiß nicht, wie lange ich gerannt bin, aber es können nur Sekunden gewesen sein. Ich sehe mich um. Links von mir ist eine Tür, auf der 08.01.13 steht. Ich lächele, denn ich kenne den Tag. Es war einer der schönsten. An dem Tag habe ich meine beste Freundin kennengelernt. Ich öffne die Tür und stecke meinen Kopf hinein.

Erste Stunde, Sportunterricht in der Turnhalle bei meinem Klassenlehrer. Ich sitze neben Anwyn auf der Bank, weil ich gerade neu in die Klasse gekommen war und den Stundenplan aus diesem Grund gerade erst erhalten hatte und deshalb keine Sportsachen dabei hatte. Anwyn war vom Sportunterricht befreit gewesen. So hatten wir uns kennengelernt und uns angefreundet.

Ich schließe die Tür wieder. Ich will jetzt lieber wissen, was das für ein Licht ist. Ich laufe darauf zu. Im Näherkommen wird es immer heller. Es blendet fast, so hell ist es. Trotzdem fühle ich mich davon magisch angezogen. Also entschließe ich mich dazu, einfach hindruch zu gehen.

Vor meinem inneren Auge spielt sich der Unfall noch einmal ab, als ich das Licht passiere. Ich sehe, wie mein Kopf auf das Lenkrad knallt.

Dann schlage ich die Augen auf.


Zwischen Schreibblockade und der wahren LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt