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"Jay, Liebling, bist du auch sicher, dass du genug Sonnencreme aufgetragen hast?"

"Jaha, Mum, ich bin sicher!", stöhnte der rothaarige Junge entnervt auf. Er liebte seine Eltern, das tat er wirklich, aber manchmal waren sie etwas überfürsorglich. Immerhin war er schon fünf Jahre alt, da konnte er auch selbst einschätzen, wie viel Sonnencreme er brauchte.

Jays Mutter sah zweifelnd von ihrem Sohn zu ihrem Ehemann. "Ich weiß nicht... Ed, was sagst du?"

"Er braucht keine Sonnencreme, Edna", meinte Ed und parkte sein ziemlich klapprig aussehendes Auto in der Nähe der Eisdiele. Ed und Edna gehörte ein Schrottplatz, müsst ihr wissen, und Ed bastelte gern an alten Autos rum, welche er auch selbst verwendete.

"Es soll heute noch richtig heiß werden!", argumentierte Edna beharrlich. "Die Sonnenstrahlen verträgt er nicht."

"Noch heißer?" Jay riss die Augen auf. Er war nun noch glücklicher darüber, dass sie heute Eis essen gingen. (Wenn es nach ihm ginge, könnte er immer Eis essen, sogar im Winter.)

Während seine Eltern darüber diskutierten, ob er nun Sonnencreme brauchte oder nicht und wenn ja, wie viel, setzten sie sich an einen freien Tisch auf der Terrasse. Jay brauchte nicht lange zu überlegen; er wollte zwei Kugeln Blauer Engel - denn Blau war seine Lieblingsfarbe.

Sein Vater bestellte ein Spagettieis und seine Mutter, welche nun endlich aufgehört hatte, über die Sonnencreme zu diskutieren, entschied sich für einen Eiskaffee.

"Erzähl mal, Jay, wie lief es denn heute im Kindergarten?", lächelte Ed und schob sich einen Löffel Spagettieis in den Mund.

Jay begann zu erzählen. Er redete und redete und hörte gar nicht mehr auf. Ohne Punkt und Komma plapperte er, wie toll der Kindergarten doch wäre und wie er sich immer darauf freute, neue Dinge zu basteln ("Wie Dad auf dem Schrottplatz!"). Was er dabei nicht erwähnte, war, dass Jay im Kindergarten keine Freunde hatte.

Nicht einen einzigen.

Natürlich hatte er schon versucht, auf die anderen Kinder zuzugehen - er war ja nun schon seit fast drei Jahren aus der Krabbelgruppe raus und somit ein großer Junge - doch die fanden ihn merkwürdig und wollten nichts mit ihm zu tun haben. Außerdem redete er ihnen zu viel.

Würde Jay weniger reden, wären ihm oder seinen Eltern vielleicht das kleine Mädchen aufgefallen, dass hinter einer Wand an der Eisdiele lehnte und zu den Walkers hinübersah.

Sie lebte auf der Straße, seit sie sich erinnern konnte. Sie wusste weder, woher sie kam, noch wie sie hieß oder wer ihre Eltern waren. Wann immer sie Familien wie Jays sah, fragte sie sich, wie ihre Eltern wohl waren (streng oder locker, ernst oder lustig), wie sie aussahen (war sie ihrer Mutter ähnlicher? Oder doch ihrem Vater?) und warum - und das fragte sie sich am meisten - warum hatten sie sie weggegeben?

Jetzt gerade musste sie sich allerdings darauf konzentrieren, unbemerkt von der Familie an den Geldbeutel der Mutter ranzukommen, der aus einer braunen Handtasche hervorschaute. Wer lässt seine Handtasche auch offen an der Stuhllehne hängen? Sie suchte ein Wort, um diese Frau zu beschreiben, fand aber keins. Wäre sie älter, wäre ihr womöglich das Wort Amateur in den Sinn gekommen.

Sie sah sich um, bevor sie von der Hauswand abließ und in geduckter Haltung auf die dreiköpfige Familie zu schlich. Ansonsten war nur ein Tisch besetzt; dort saß ein Mann mittleren Alters und löffelte Schokoladeneis, während er Zeitung las. So wenig Kundschaft in der Eisdiele war für dieses warme Wetter ungewöhnlich, doch Glück für das kleine Mädchen.

Der Junge brabbelte noch immer und sie frage sich, wie seine Eltern so interessiert wirken konnten. Vielleicht reden sie genauso viel wie er. Inzwischen stand sie genau hinter dem Stuhl der Mutter. Vor Konzentration biss sie sich auf die Zunge, streckte die Hand nach der Brieftasche aus...

𝐃𝐚𝐫𝐤 𝐒𝐡𝐚𝐝𝐨𝐰𝐬 // 𝐂𝐨𝐥𝐞 𝐇𝐞𝐧𝐜𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt