16.

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• Natasha Blume - Black Sea •

Es war wie ein Déjà-vu. Yashar saß angespannt auf dem Beifahrersitz, die Hand fest um den Türgriff geklammert, als würde er jeden Augenblick die Tür aufreißen und aus dem Wagen springen. Währenddessen war Alexej dabei, Yashars Fahrrad hinten auf der Ladefläche zu verstauen. Er war in den letzten drei Tagen öfter in diesem Auto mitgefahren als in den letzten Monaten zusammen.

Er liebte den Geruch von Alexejs Auto. Es roch nach frischem Leder, ein wenig nach Tabak und ganz besonders nach Alexej. Es war diese Art von Eigengeruch, die man nicht richtig in Worte fassen konnte. Ein Geruch, der Yashar jedes Mal schwach werden ließ. Er war sich sicher, dass er sich an diesem Geruch hätte betrinken können.

Bevor Alexej einstieg, blieb er noch einige Minuten draußen stehen, gegen eine Mauer gelehnt, und rauchte. Er starrte in den Himmel, während Yashar fasziniert und heimlich aus dem Auto heraus sein von der untergehenden Sonne orange gefärbtes Gesicht betrachtete. Yashar hätte gerne eine Kamera dabei gehabt, um diesen Moment einzufangen und sich später immer wieder daran erinnern zu können. 

Es war einer dieser Augenblicke, in denen man wusste, dass man jede Minute, jede Sekunde genießen musste, weil sie so kostbar wie vergänglich waren.

»Hast du Hunger?«, fragte Alexej, als er sich schließlich in den Fahrersitz fallen ließ.

Yashar ließ sich seine Überraschung über Alexejs Frage nicht anmerken. Essen, natürlich. Darüber hatte er gar nicht nachgedacht.

»Ein bisschen«, antwortete er, nur eine Sekunde bevor sein Magen zu rebellieren schien und laut knurrte. Alexej und Yashar warfen sich einen kurzen Blick zu, bevor Alexej plötzlich anfing zu lachen. Yashar spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.

»Ein bisschen also.« Alexej trommelte mit den Fingern auf seinem Lenkrad herum und schien nachzudenken. »Willst du irgendwo was essen gehen? Oder was bestellen?« Als er Yashars Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Wir können auch zu mir und etwas kochen.«

Bei dem Gedanken daran, zu Alexej zu fahren, neben ihm in seiner Küche zu stehen und gemeinsam mit ihm zu kochen, zog sich Yashars Brustkorb zusammen. Es war ein schönes Gefühl. Aufregend.

»Klingt gut.« Er nickte und hoffte, dass man seiner Stimme seine Aufregung nicht anhören konnte. Er wand das Gesicht ab, damit Alexej das vorfreudige Grinsen nicht bemerkte.

Es war immer noch ein wenig warm, aber nicht so warm, dass man die Klimaanlage hätte an machen müssen. Stattdessen hatten sie alle Fenster geöffnet. Der Fahrtwind wehte von allen Seiten hinein, als sie mit 100km/h über die Landstraße fuhren. Yashar streckte sein immer noch warmes Gesicht der kühlenden Abendluft entgegen.

Am liebsten hätte er die Musik, die leise aus dem Radio summte, laut aufgedreht, die Arme ausgestreckt und einfach gegen den Fahrtwind geschrien. Er hätte gerne den Kopf nach links gedreht und Alexej beim Autofahren beobachtet. Hätte gerne gesehen, wie Alexejs starken Hände das Lenkrad hielten und sein Blick auf die Straße gerichtet war, während seine Gedanken vermutlich woanders waren. Er hätte gerne gesehen, wie Alexejs Blick zwischen der Straße vor sich, dem Rück- und den Seitenspiegeln wechselten, wie er sich die Haare aus dem Gesicht strich, wenn der Wind ihm einzelne Strähnen wieder in die Augen wehte. Und obwohl er das alles nicht mit seinen eigenen Augen sehen konnte, malte ihm sein Kopf dieses Bild.

Yashars Herz fühlte sich leicht und unbeschwert an. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so gefühlt hatte.

»Du siehst gut aus.«

Überrascht riss Yashar den Blick von den Bäumen und Wiesen los, an denen sie vorbeifuhren und sah den Jungen neben sich an.

»Glücklich, meine ich.« Alexejs Stimme klang rau. »Du siehst glücklich aus.«

Ihm waren durch den starken Fahrtwind ein paar dunkelblonde Strähnen ins Gesicht gefallen und seine Haare standen in alle Richtungen ab. Yashar musste bei dem Anblick lächeln. Vermutlich sah er nicht viel besser aus.

»Ja«, sagte er lächelnd. »Heute bin ich glücklich.«

Yashar wusste nicht, was Alexej dachte. Ob er dasselbe dachte wie er oder etwas anderes. Ob er über ihre Frisuren schmunzelte oder mit den Gedanken ganz woanders war, außerhalb dieses Autos, aber er lächelte. Und dieses Lächeln war alles, was Yashar in diesem Moment brauchte.

Irgendwann bog Alexej in eine Einfahrt ein. Yashars Herz klopfte immer wilder, während sein Blick an dem Haus klebte, in dessen Einfahrt sie gerade fuhren. In wenigen Minuten würde er Alexejs Haus betreten. Es war das erste Mal, dass er bei ihm zu Hause sein würde und er war unglaublich nervös, ohne zu wissen, wieso eigentlich. Schließlich war es nur ein Haus. Nichts Besonderes.

Sie stiegen aus dem Auto. Yashar folgte Alexej, als sie die Haustür ansteuerten. Seine Handflächen fühlten sich feucht an, als er die Hände in seinen Hosentaschen vergrub und seine Nervosität herunter schluckte.

Alexej ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen, als sie schließlich mitten im Flur stehen blieben.

Im Haus sah es anders aus, als Yashar es sich vorgestellt hatte. Nein, das stimmte nicht ganz. Er wusste nicht, was genau er erwartet hatte. Die Möbel und die Deko waren farblich abgestimmt in warmen, beigen Tönen. An den Wänden hingen keine Familienfotos. Andererseits stand er auch nur im Hausflur. Er hatte keine Ahnung wie es im Rest des Hauses aussah.

»Scheiße«, stöhnte Alexej auf einmal und dann, ohne Vorwarnung, zog er sich sein T-Shirt aus. »Das ist total durchgeschwitzt. Ich springe kurz unter die Dusche. Bin gleich wieder da. Fühl dich wie zu Hause. Meine Eltern sind heute Abend nicht da.«

Yashar war viel zu sehr beschäftigt damit, Alexejs nackten Oberkörper nicht zu offensichtlich anzustarren, um zu antworten, aber anscheinend hatte Alexej auch keine Antwort erwartet, denn er hob seinen Rucksack auf und stieg dann die Treppen hinauf. Als er in einem der Zimmer verschwunden war, stieß Yashar die Luft aus, die er bis dahin angehalten hatte.

Er blieb eine Sekunde lang stehen, zwei Sekunden, drei, und atmete dann zitternd ein und wieder aus. Dann ging er hastig auf die Toilette. Er schloss hinter sich ab und steuerte das Waschbecken an. Was hatte er getan? Was hatte er sich hierbei gedacht? War war mit seinem Plan? Seinem Plan in Richtung Freiheit? War er jetzt komplett durchgedreht?

Yashar stützte sich am Waschbecken ab, während sein Blick an seinem Spiegelbild klebte. Er starrte sein Ebenbild an. Die braunen, wirren Locken, die großen braunen Rehaugen. Er sah tatsächlich wie ein Reh aus. Wie ein Reh, das in die Scheinwerfer eines anfahrendes Autos blickte.

Er drehte den Wasserhahn auf und klatschte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht, dann hob er wieder den Blick, als hätte er gehofft, dass sich das, was ihm da entgegen blickte, verändert. Aber es war immer noch sein eigenes klägliches Gesicht, das ihm da gegenüberstand.

»Du spinnst«, zischte er seinem Spiegelbild leise zu. »Du bist verrückt. Verschwinde. Schnapp dir dein verdammtes Fahrrad und verpiss dich.«

Yashar hatte nicht gewusst, wie lange er in diesem Bad gewesen war, doch plötzlich hörte er ein lautes Klopfen. Er zuckte heftig zusammen. Sein Blick huschte zu der Tür hinter seinem Spiegelbild, aber natürlich ging sie nicht auf. Er hatte abgeschlossen.

Alexej klopfte wieder. »Hey, alles okay da drinnen?«

»Ja«, rief Yashar nach kurzem Zögern zurück, ohne sich umzudrehen. Seine Augen hingen wieder an seinem Spiegelbild, das ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen schien, der sagte: Tja, zu spät. Jetzt sieh zu, wie du dich selbst aus dieser Scheiße rettest.

»Ich komme gleich«, schob er hinterher.

Dann sieh mal zu, wie du diesen Abend überlebst.

Behind His Smile | boyxboy [PAUSIERT] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt