Kapitel 2

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Ich warf die letzte zerknüllte Serviette in den Mülleimer und stützte mich mit einer Hand am Küchentresen ab, während ich mir mit der anderen durchs Haar fuhr. Aufräumen war anstrengend. Aber es war nicht nur das Chaos im Esszimmer, das es zu beseitigen galt. Auch in mir tobte ein Sturm und wirbelte Gedanken und Gefühle wild durcheinander.

Auch, wenn ich es nicht wollte: Der Wunsch beim Kerzenauspusten hatte mir aus irgendeinem Grund Hoffnung gegeben. So albern es auch sein mochte. Ich genoss es, ein positives Gefühl zu haben, gleichzeitig jedoch wollte ich nicht hoffen, nur damit dies am Ende wieder zerstört wurde. Außerdem...es war meine Schuld, nur durch mich hatte es überhaupt zu diesem Wunsch und den folgenden Grübeleien kommen können. Ich fühlte mich einfach entsetzlich. Es war meine Schuld...

»Geht es dir gut?«, fragte Jacob in diesem Moment. Er stand dicht hinter mir, ich konnte seinen warmen Atem im Nacken spüren. Langsam drehte ich mich um und schloss erschöpft die Augen. Manchmal gab es Momente, in denen ich meine wahren Gefühle einfach nicht länger verbergen konnte. Und jetzt war so ein Moment gekommen. Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich gegen Jacobs Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte. Sofort spürte ich seine Hände an meinem Rücken, sie fuhren sanft auf und ab, um mich zu beruhigen. Dankbar schlang ich die Arme um seine Taille.

»Was ist los, Haselnüsschen?«, hörte ich Jacob fragen und musste unwillkürlich lächeln, als er meinen alten Spitznamen benutzte. Es war lange her, seit ich ihn das letzte Mal gehört hatte. Ich zuckte die Schultern »Es ist albern.«, sagte ich leise und meine Stimme klang gedämpft vom Stoff seines T-Shirts.

»Nichts ist albern, wenn es dich belastet.«, erwiderte er mit ernster Stimme und ich seufzte tief. »Weißt du...Es ist wegen Caleb. Ich weiß, du denkst, ich muss keine Schuldgefühle haben, aber ich sehe das anders. Ich hätte anders handeln müssen. Ich hätte-«, begann ich, wurde jedoch von einem lauten Scheppern unterbrochen, das aus dem Bad zu kommen schien.

»Hazel!«, tönte es kurz darauf von dort und ich straffte die Schultern. Ich schaffte das. »Ich bin gleich da.«, rief ich zurück und blickte Jacob an. »Es wird schon wieder.«, fügte ich an ihn gewandt hinzu, ehe ich mich umdrehte und durch den angrenzenden Flur ins Bad verschwand.

~~~

Später lag ich in meinem Bett und starrte an die Decke. Noch immer kreisten meine Gedanken um den heutigen Nachmittag und auch um die Geschehnisse im „Dämonennest", wie wir es nannten.

An jenem Tag hatte ich gearbeitet, als mich eine Nachricht von Jacob erreicht, ich solle mich mit ihm treffen. Ich war damals noch sehr wütend auf ihn gewesen, denn sein Betrug mir gegenüber lag nicht weit zurück. Trotzdem hatte ich mich, beseelt von der Hoffnung auf eine Entschuldigung, auf den Weg gemacht und war im Regen entführt worden. Man hatte mich in ein Gebäude gebracht, in welchem so ziemlich alles grau war und Caleb war mir gefolgt. Ich hatte nie wirklich begriffen, was die Dämonen eigentlich von mir wollten, aber ich bezweifelte sehr, dass es etwas Positives war. Irgendwie war ich in einem großen Saal auf Caleb getroffen und kurz danach auch auf Faye. Wir hatten alle zusammen fliehen wollen, aber das hatte sich als schwieriger herausgestellt als gedacht. Ich war dafür gewesen, zu kämpfen, und hatte mich, warum auch immer, auf die gegenüberliegende Seite des Saals begeben wollen. Im Nachhinein begriff ich selbst nicht mehr so genau, warum ich mich von den anderen entfernt hatte. Jedenfalls war Caleb mir nach einiger Zeit gefolgt, auch wenn ich eigentlich gesagt hatte, er solle warten. Dummerweise war er erwischt worden und nach einem kräftezehrenden Kampf hatte man ihn mit einem massiven Eisenschwert erdolcht. Und das war allein meine Schuld gewesen.

Ich hatte nicht nachgedacht, sondern war auf volles Risiko gegangen. Ich hatte nicht gewartet und einen Plan ausgetüftelt, sondern wollte spontan und schnell angreifen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Die Gedanken jagten sich gegenseitig und schon bald fand ich mich in einem einzigen Wirrwarr aus Gefühlen wieder, das es mir unmöglich machte, einzuschlafen. Also setzte ich mich auf, Schlug die Decke zurück und stand auf. Ich wusste genau, was ich jetzt brauchte.

Ich zog mir Jeans und einen Hoodie an, holte mir eine Jacke aus der Kommode im Flur und streifte sie über. Anschließend ging ich in den Wohn-/Essbereich und wollte von dort aus in den Hausflur, als ich einen Schatten im Augenwinkel wahrnahm.

Mein Puls schoss in die Höhe. Dämonen? Der letzte Angriff dieser Art lag Monate zurück, nach den Ereignissen im Dämonennest hatten sie schlagartig aufgehört. Blitzschnell brachte ich mich in Angriffsstellung, nur um kurz darauf erleichtert aufzuatmen. »Lany?«,  flüsterte ich verwirrt.

Meine Schwester zuckte zusammen, doch dann erkannte sie mich und ging auf mich zu. »Hast du mich erschreckt! Was machst du hier?«, wisperte sie zurück. Pf! Hauptsächlich wohnte ich hier.

»Dasselbe könnte ich dich fragen. Wieso schläfst du nicht?«, fragte ich leise. Lany zuckte die Achseln. »Jetlag, nehm ich an. Und Zeitverschiebung.«, erklärte sie. Ich nickte verstehend, das ergab Sinn. Schließlich war meine Familie extra aus Deutschland angereist, um mit mir meinen achtzehnten Geburtstag zu feiern.

»Ach so.», sagte ich und setzte mich auf die Couch. »Und du?«, wollte meine Schwester nun wissen, »Wieso bist du wach?«

»Ach...«, druckste ich herum, »Ich konnte nicht schlafen. Da dachte ich, ein Ausflug könnte helfen.« Das Gesicht meines Gegenübers leuchtete förmlich auf. »Darf ich mitkommen?«, fragte Lany, gerade so, als ob sie die kleine Schwester wäre. Ich nickte. Warum nicht?

»Okay, dann zieh dir was anderes an. Es ist kalt draußen.«, meinte ich murmelnd und meine Schwester salutierte mit den Worten »Klar, Mama.«

Ich verdrehte scherzhaft die Augen. Lany war manchmal so albern.

Wenige Minuten später fanden wir uns im Hausflur ein und ich verstaute den Wohnungsschlüssel in meiner Jackentasche. Ich lotste meine Schwester die Treppe hinauf und durch ein kleines Dachfenster, dann standen wir auf dem Hausdach des Wolkenkratzers, in dem sich Jacobs und meine Wohnung befand.

Die kühle Nachtluft tat gut auf meiner Haut und ich atmete sie tief ein. Unter uns erstreckte sich das schlafende Los Angeles, doch die vielen Lichter ließen es so aussehen, als gäbe es keinen großen Unterschied zum Tag. Großstadt eben. Ich warf einen Blick hinüber zu Lany, die fasziniert die Aussicht genoss. Ich rempelte sie an. »Mund zu. Komm, lass uns losgehen.«, forderte ich sie auf. Mein Atem bildete kleine Wölkchen vor meinem Mund. Sie lösten sich in gräulichen Schwaden auf.

Ich begann zu rennen und stieß mich kräftig vom Rand des Gebäudes ab. Noch in der Luft verwandelte ich mich in meine wahre Erscheinungsform. Meine weißen Schwingen erzeugten raschelnd dumpfe Geräusche, als ich sie langsam auf und ab bewegte, um mich in der Luft zu halten. Wie erwartet lösten sich meine trüben Gedanken in Nichts auf, während ich über LA dahinsegelte.

Meine Schwester war direkt hinter mir. Sie stieß einen leisen Freudenschrei auf, der mir verriet, dass sie wohl schon lange keinen Ausflug mehr gemacht hatte. Das würde auch ihre übertriebene Reaktion von vorhin erklären.

Ohne mein Zutun hatte sich ein leichtes Lächeln in mein Gesicht geschlichen und meine Sorgen fühlten sich um ein zehnfaches leichter an. Glücklich schlug ich ein paar Saltos und schraubte mich weiter hoch in die Luft, bis ich mich über den Wolken befand. Dort war es nicht mehr dunkel, ganz im Gegenteil: Es dämmerte der Tag herauf, der Himmel war in verschiedene Rot- und Orangetöne getaucht, die ineinanderflossen und einen wunderschönen Anblick boten. Ich hoffte, dieses Bild für immer in mein Gedächtnis einschließen zu können. Die sanften Töne gaben mir ein Gefühl der inneren Ruhe, etwas, das ich dringend nötig hatte.

»Hazel? Komm wieder runter, du weißt, ich hasse die Wolken!«, hörte ich Lanys Stimme gedämpft zu mir dringen. Seufzend, aber amüsiert tauchte ich durch den Wasserdampf wieder zurück auf Lanys Ebene. Als Kind war sie mal in eine Gewitterwolke geraten und trug dabei ein Wolkentrauma davon.

Wir flogen noch eine ganze Weile durch die Lüfte, ehe wir umkehrten und zurück nach Hause flogen. Mein Gedankenkarussell war zum Stillstand gekommen und ich atmete tief durch.

Alles würde gut werden.

Ganz bestimmt.

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